Bosmans/Deleu 03 -Ins blanke Messer
den Anblick bereits unbewusst aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen hatte, vermied er es zunächst, den toten Jungen direkt anzusehen. Er wollte sich die genaue Lage der Leiche einprägen, so wie er sie beim Eintreten spontan erfasst hatte.
Ermittler Jef Vanderkuylen inspizierte ein Loch in der Wand über der Eingangstür.
»Was ist das?«, fragte Deleu.
»Ein Geschosseinschlag. Schweres Kaliber, wenn du mich fragst. Die Spitze steckt noch drin.«
Deleu antwortete nicht und ging zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich um und kniff die Augenlider zu Schlitzen zusammen. Die Umrisse des Mobiliars verschwammen, und die Welt um ihn herum wurde undeutlich. Er konzentrierte sich ganz auf den Jungen, dessen Leiche auf dem Teppich lag, die Beine gespreizt, der Körper nach rechts gekrümmt. Es sah aus, als wäre sein Rückgrat gebrochen. Sein T-Shirt war im Rücken hochgeschoben und blutverschmiert. Die Jeans mit den abgeschnittenen Hosenbeinen war knapp über der Poritze festgezurrt. Deleu stieß ein seltsam unpassend wirkendes Lachen aus und räusperte sich.
Sein Sohn Rob besaß ebenfalls solche eigenartigen Angewohnheiten. Der Hintern seiner viel zu großen Jeans hing ihm regelmäßig bis in die Kniekehlen. Barbara war anfangs die Wände raufgegangen.
Barbara
. Deleu schluckte und blickte beiseite. Dort stand ein Sperrholzwandschrank, der den Spuren nach zu urteilen unzählige Male auf- und abgebaut worden war. Der Junge war ungefähr in demselben Alter wie Rob.
Erst das Gesamtbild, Deleu. Dann die Einzelheiten. Der erste Eindruck ist entscheidend!
Der Junge mit den dicken Locken, um den ging es. Dicke Locken, die sein linkes Auge teilweise bedeckten. Der Teenager, dessen Leben jäh ein Ende gesetzt worden war. Deleu lief es kalt den Rücken hinunter, und er biss sich auf die Unterlippe.
Business as usual.
Die linke Wange des jungen Migranten ruhte auf seinem linken Oberarm, sein rechtes Auge starrte glasig hinauf zur Decke. Seine Lippen sahen gräulich aus, und sein rechter Arm lag in einem Neunziggradwinkel vor dem linken, die Hand zur Faust geballt. Vorsichtig näherte sich Deleu, ein Taschentuch an die Nase gedrückt. Die Hand des Toten war nicht ganz zur Faust geschlossen, Zeigefinger und Daumen waren gekrümmt. Das weiße T-Shirt war mit Flecken und Streifen verschmutzt, die zwischen Braun und Ocker rangierten. Geronnenes Blut und Wundwasser. Deleu bückte sich. Unterhalb des Schulterblatts, wo das dünne Kleidungsstück eingerissen war, sah er eine deutliche Stichwunde, die von einer schmalen, doppelschneidigen Klinge stammte. Um das zu erkennen, musste man kein Gerichtsmediziner sein. Die Wundränder waren gleichmäßig glatt und nicht an einer Seite rissig.
Der Ermittler presste sich die Faust gegen die Stirn, schloss die Augen und steckte sich die Finger in die Nasenlöcher, doch der Leichengeruch drang durch das mit Aftershave besprenkelte Taschentuch hindurch. Deleu schob das T-Shirt ein kleines Stück hoch. Der Unterleib des Jungen wies grünliche Flecken auf.
Abdominale Totenflecken. Er muss schon mindestens zwei oder drei Tage hier liegen. Starker Verwesungsgeruch. Daran ist nicht allein die Hitze schuld.
Deleu warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, wie ein schwänzender Schüler, der sich ertappt fühlt. Der Fotograf war gerade dabei, seine Ausrüstung zusammenzupacken.
»Hast du alles?«
»Drei Filme à sechsunddreißig Aufnahmen.«
Der Fotograf wartete nicht auf eine Antwort. Er hängte sich seine grüne Fototasche über die Schulter und marschierte mit großen Schritten zur Tür. Er sah sich nicht um. Routine. Entwickeln, abliefern und auf zum nächsten Einsatz.
Deleu nahm es nicht mal zur Kenntnis. In Gedanken versunken, ging er zu dem Einbauschrank mit der Schiebetür, der den größten Teil der fensterlosen Wand in Beschlag nahm.
»Jef?«
»Ja, Dirk?«
»Was wissen wir über ihn?«
»Yussuf Benaoubi, achtzehn Jahre alt. Marokkaner, vorbestraft wegen Drogenhandels. Die Eltern wohnen in der Lange Schipstraat, das habe ich überprüfen lassen. Der Junge ist hier erst vor einem Monat eingezogen. Ein Einzelgänger. Außer ihm wohnen in Zemst keine Marokkaner.«
»Nein, und jetzt gar keine mehr«, stellte Deleu fest, und es klang weder zynisch noch mitfühlend, sondern einfach nur tonlos. »Welche Hausnummer in der Lange Schipstraat?«
»Zweiundsiebzig, genau gegenüber von der früheren Polizei dienst stelle, in der ich über fünfzehn Jahre lang gearbeitet habe.«
Deleu
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