Brasilien: Ein Land der Zukunft
dreimal seitdem gespielt worden und die wirklich neuzeitliche Musik soviel wie unbekannt. Erst jetzt hat man damit begonnen, symphonische Orchester aufzubauen, aber noch immer ist es die leichte, die gefällige Musik, die hier im Publikum vorwaltet.
Um so erstaunlicher deshalb, daß dieses Land schon zu einer Zeit, wo es wirklichen Heroismus und einen geradezu verzweifelten Lernwillen erforderte, sich heranzubilden, einen Musiker hervorgebracht hat, dem ein rauschender Welterfolg beschieden war, Carlos Gomes. In einem kleinen Städtchen im Staate von São Paulo 1836 geboren, tritt er schon mit zehn Jahren in eine Musikkapelle ein und bildet sich nun ohne jeden richtigen Lehrer in einem Lande, wo Partitur und wirkliche Opernvorstellungen kaum für ihn erreichbar sind, so willenskräftig aus, daß er bereits mit vierundzwanzig Jahren eine Oper, ›A Noite do Castelo‹ vorlegen kann. 1861 in Rio de Janeiro aufgeführt, wird sie ebenso wie seine nächste ein großer nationaler Erfolg. Nun nimmt sich der Kaiser Dom Pedro seiner an und sendet ihn zur weiteren Ausbildung nach Europa. In Italien fällt ihm der Roman seines Landsmanns, die ›Guarani‹ von [José] de Alencar, in italienischer Übersetzung in die Hand, und sofort stürzt er damit zum Librettisten, dies sei das Werk, mit dem er als Brasilianer Brasilien vor der Welt darstellen wolle. 1870 wird die Oper in der Scala aufgeführt und ein sensationeller Erfolg. Der Altmeister Verdi erklärt, einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben, und noch heute gelangen die ›Guarani‹ – die beste Oper Meyerbeers, wie sie ein Musikhistoriker genannt hat – ab und zu auf italienischen Bühnen zur Aufführung. Ein typisches Musterexemplar jener großen Oper, die dem Auge, dem Ohr alles reichlich und überreichlich gibt, nur der Seele nicht genug, melodiös in ihrem lyrischen Teil, macht das Werk heute noch den Erfolg und die großen Hoffnungen, die man an den weiteren Aufstieg Carlos Gomes’ knüpfte, verständlich, aber gerade weil sie so trefflich in diese romantische und pompöse Meyerbeer-Zeit paßten, sind die ›Guarani‹ heute schon mehr ein musikhistorisches Dokument als lebendige Musik. Den typisch brasilianischen Beitrag zur Weltmusik hat bedeutend mehr als der italianisierende Carlos Gomes uns Villa Lobos gegeben. Ein starker, eigenwilliger Rhythmiker, der jedem seiner Werke eine bei anderen Komponisten nicht zu findende Farbe gibt, die in ihrer Grelle und dann wieder in ihrer geheimnisvollen Schwermut geheimnisvoll die Landschaft und die brasilianische Seele spiegeln.
Einen ähnlich typisch brasilianischen Ausdruck des Volkshaften erwartet man sich in der Malerei von Portinari, dem es als erstem brasilianischen Maler gelungen ist, sich eine internationale Stellung in wenigen Jahren zu erobern. Aber wieviel Farbe, wieviel Vielfalt, welche ungeheuren glücklichen Aufgaben erwarten in dieser großartigen Landschaft noch den Mann, der ähnlich wie Gauguin für die Südsee, Segantini für die Schweiz die grandiose Natur dieses Landes der Welt vertraut machen wollte. Welche Möglichkeiten eröffnen sich hier der Architektur in diesen mit fiebriger Geschwindigkeit wachsenden Städten, die immer stärker den Willen offenbaren, nicht mehr nach europäischem Schema und nicht auch nach dem nordamerikanischen, sondern in einer persönlichen Form zu gestalten! Viel wird in diesem Sinne hier versucht und einiges Wesentliche ist schon erreicht worden.
In der Wissenschaft – einer Materie, wo mir persönlich Überblick und Wertung durch mangelnde Fachkenntnis versagt ist – haben die letzten Jahre einen erstaunlichen Fortschritt in der historischen und ökonomischen Selbstdarstellung des Landes gebracht. Fast alle früheren Dokumente und Darstellungen Brasiliens waren von Ausländern geschrieben worden. Im sechzehnten Jahrhundert ist es der Franzose Thévet, der Deutsche Hans Staden, im siebzehnten der Holländer Berleus, im achtzehnten Jahrhundert der Italiener Antonil und im neunzehnten Jahrhundert der Engländer Southey, der Deutsche Humboldt, der Franzose Debret und der von Deutschen abstammende Varnhagen, denen man die eigentlich klassischen Darstellungen des Landes dankt. Aber in den letzten Jahrzehnten sind es die Brasilianer, die sich der Aufgabe angenommen haben, ihr Land und seine Geschichte auf Grund sorgfältigster Quellenstudien verständlich zu machen, und zusammen mit den sehr gründlichen Publikationen der Regierung und der einzelnen Staaten
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