Braut der Nacht
vergessen mit dem Gesicht nach unten am Rand des Tischs. Er hob den Blick nicht von dem Buch, in das er sich vertieft hatte, bemerkte nicht, dass ich da war, was mir einen Moment lang gestattete, meine Augen an den breiten Schultern und seinem Oberkörper zu weiden, der sich zu schmalen Hüften hin verjüngte.
Er war nicht groß und massig wie Bobby, sondern verfügte über eine verhaltene, geschmeidigere Stärke. Ich sollte ihn eigentlich hassen. Schließlich hatte er mich zu dieser blutsaugenden Abnormalität gemacht. Doch als ich ihn beobachtete, war alles, was ich hassen konnte, die Tatsache, dass es mich in den Fingern juckte, ihm durch das dunkle Haar zu streichen, das ihm über die Schultern floss. Ich konnte nur hoffen, dass er es nie bemerkte, mich nie dabei beobachtete, wie ich ihn heimlich anstarrte, doch manchmal fürchtete ich, dass er mich besser kannte als ich mich selbst. Das war kein beruhigender Gedanke.
Nathanial klappte das Buch auf seinem Schoß zu, warf es auf den Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Müde rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. Wenn er menschlich genug gewesen wäre, um zu seufzen, dann hätte er es vermutlich in diesem Augenblick getan, aber er verschwendete seine Energie nur dann aufs Atmen, wenn er sprach oder zur Show. Als ginge ein stummer Alarm in seinem Kopf los, ließ er die Hand sinken, drehte sich um und spähte in die Dunkelheit, wo ich stand.
Erwischt.
Ich trat durch die Tür, und Nathanial erhob sich geschmeidig und kam durch die Küche auf mich zu. Das intensive Bewusstsein seiner Gegenwart hüllte mich ein, bevor die Türen Zeit hatten, an ihren Platz zurückzuschwingen. Seine Anmut war nicht katzenhaft wie die der Shifter, mit denen ich aufgewachsen war, aber sie war eindeutig die eines Raubtiers. Und sie war durch und durch männlich. Er streichelte mir sanft über die Wange, dann hauchte er einen federleichten Kuss auf meine Stirn.
Mein Herz tat einen Satz, als treibe es mich einen Schritt näher zu ihm, in seine Arme. Doch stattdessen wich ich zurück.
»Wann bist du zurückgekommen?«, fragte ich in der Hoffnung, dass er noch nicht lange genug zu Hause war, um meine Abwesenheit bemerkt zu haben. Allerdings bezweifelte ich, dass ich so viel Glück hatte. Nathanial entging nur sehr wenig. Außerdem war der Stapel an Büchern auf dem Tisch beeindruckend.
Er runzelte die Stirn, und ich wand mich innerlich unter seinem gemessenen Blick, bis ich schließlich die Augen niederschlug, um ihm zu entkommen. Meine Handflächen waren grau vor Staub von dem Sarkophag, und rote Rostflocken klebten mir an den Fingern wie getrocknete Blutspritzer. Ich wischte mir die Hände an den Oberschenkeln ab. Es half nichts, also rubbelte ich stärker. Nathanial trat näher, umfasste meine Hände und brachte mich so dazu, innezuhalten.
»Wo warst du, Kita?«
Ich zuckte nur mit den Schultern, ohne hochzublicken. »Mit Gil zusammen.«
Das war keine Antwort. Nicht wirklich. Aber nach einem Herzschlag trat er zurück, als habe er mehr akzeptiert, als ich gesagt hatte. »Der Rat will dich sprechen.«
Er wechselte das Thema? Ernsthaft? Er hatte mich noch nie so leicht mit halbherzigen Antworten davonkommen lassen. Natürlich kam es auch nicht jeden Tag vor, dass ich eine Leiche entdeckte und vor den Vampirrat von Haven zitiert wurde.
Ich nickte und entzog ihm meine Hände. Ohne ein weiteres Wort führte er mich aus der Tür auf die Veranda hinaus, doch als er sich umdrehte, schmolz das Stirnrunzeln von seinem Gesicht und ließ an seiner Stelle einen Ausdruck gelassener Arroganz zurück. Seine Miene, so bar echter Gefühle, als habe er die Opernmaske wieder aufgesetzt, sprach Bände über die Gefühle, die er nicht mitteilen wollte.
Zumindest für mich.
Es war sein öffentliches Gesicht, das, hinter dem er sich versteckte. Die Tatsache, dass er es aufsetzte, obwohl wir beide unter uns waren, ließ meine Nervosität in den Himmel schießen. »Was?«, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du jagst mir allmählich Angst ein, Nathanial.«
Er blinzelte, als wäre er erschrocken. Hatte er gedacht, ich würde es nicht bemerken, dass er ganz verschlossen und geheimniskrämerisch geworden war?
»Ich werde jetzt etwas sagen, das dir nicht gefallen wird«, antwortete er in einem Tonfall, der ebenso zurückhaltend war wie seine Miene.
Als ob ich mir das nicht schon selbst zusammengereimt hätte. Nervös trommelte ich mit den Fingern
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