Initiation
V ertraue niemandem. Das hölzerne Schild über dem Bett konnte nicht auffälliger sein. Als ob ich jemals eine der drei Goldenen Regeln vergessen würde.
Nachdem ich meinen Koffer auf die glatte, weinrote Tagesdecke geworfen hatte, hob ich den Umschlag auf, den ich auf meinem Kissen entdeckt hatte, und setzte mich hin, um mein neues Zimmer zu checken.
Das Zimmer war viel größer als das, was ich letztes Jahr gehabt hatte. Es gab sogar einen Frühstückstisch mit zwei gepolsterten Stühlen – auf einem davon saß ich – und eine Schlafcouch für Gäste. Cool. Das würde bei Pyjama-Partys praktisch sein. Alle Schlafzimmer im Ostturm, meins eingeschlossen, waren nach dem Feuer wieder aufgebaut worden. Sie waren in ihren Ursprungszustand zurückversetzt worden, als ob nie ein Feuer gewütet hätte. Wer auch immer mit der Restauration beauftragt gewesen war, hatte es sogar geschafft, die alten weinroten Handtücher zu ersetzen. Als ich aber einatmete, bemerkte ich, dass der alte vertraute Geruch einem neuen gewichen war – den Duft nach frisch gestrichenen Wänden mit einem Hauch Orange, vom frisch polierten Holz.
Kaum zu glauben, dass der komplette Flügel vor nur drei Monaten in Flammen aufgegangen war. Auch der Rest der Schule war nicht von Rauch und Feuer verschont geblieben, sodass die Bonfire Academy zum ersten Mal in ihrer Geschichte schließen musste.
Bonfire Academy liegt versteckt am Stadtrand von St. Moritz, dem luxuriösen Skiurlaubsort in der Schweiz, und ist eine exklusive Schule zur paranormalen Ausbildung. Die kleine, aber schicke Stadt ist auf diejenigen ausgerichtet, die den Champagner-Lebensstil genießen. Sie ist als Spielplatz der Reichen und Berühmten weltbekannt. Deshalb ist die Schule natürlich auf die Sprösslinge der Oberschicht der paranormalen Gesellschaft eingestellt. Dafür sorgen die Aufnahmeprüfungen, das Auswahlverfahren und die jährlichen Studiengebühren. Schüler aus aller Welt – und darüber hinaus – kommen hierher.
Nach dem Feuer mussten alle Schüler nach Hause geschickt werden, außer den Vampirfrischlingen, die während des Wiederaufbaus in den Keller verbannt worden waren. Das war anscheinend ein totaler Albtraum gewesen. Die Tatsache, dass man in der Lage gewesen war, so zügig wiederzueröffnen, war erstaunlich. Ich war froh, mein drittes Jahr wieder hier antreten zu können.
Bestimmt gab es jede Menge neue Regeln. Dafür hatten die Zwillinge gesorgt. Aber Jaques und Mariel, die berüchtigten Zwillinge, würden nicht wieder in die Academy zurückkehren. Sie waren schon längst zu Legenden geworden, noch bevor sie sich entschlossen hatten, die Anlage in einen riesigen Feuerwerkskörper zu verwandeln. Und so waren sie, nach sechs Jahren an der Schule, zu den allerersten Schulabbrechern gekürt worden.
Ich riss den wachsversiegelten Umschlag mit dem darauf geprägten offiziellen BA-Abzeichen auf. Noch beim Herausziehen des pergamentartigen Blatts, las ich die handgeschriebene Notiz. Es war eine kurze Nachricht vom Vorsitzenden des Schülerrats, der mich bat, in sein Büro zu kommen. Ich hatte Gerüchte gehört, dass es dieses Jahr ein Junge sein sollte, obwohl die Identität immer bis zu Beginn des Schuljahres geheim gehalten wurde.
Wie auch immer, ein Treffen? Igitt. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ein Treffen mit dem Vorsitzenden war so selten, dass die meisten neuen Schüler glaubten, er sei nur ein Mythos, den sich die Schule ausgedacht hatte, um uns in Schach zu halten – ein imaginäres Geschöpf, gemalt in den Farben der Angst. Ich wusste es natürlich besser, aber bei dem Gedanken daran, fühlte ich mich trotzdem unwohl. Warum wollte er
mich
sehen?
Ich fing gerade mein drittes Jahr an der Academy an, ein rein freiwilliges Jahr, reserviert für den Ausbau der Selbstentfaltung, in welchem wir unseren eigenen Weg der Entwicklung wählen durften. Viele entschieden sich dafür, Mentor der neu ankommenden Schüler zu werden, andere entschieden sich dafür, ein weiteres Jahr mit der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten zu verbringen. Ich wollte mich auf Tennis konzentrieren. Außerdem blieb mein fester Freund für ein weiteres Jahr und ich wollte in seiner Nähe sein.
Es war mir ein Rätsel, warum der Vorsitzende des Schülerrats mich zu sich bestellt hatte. Plötzlich fürchtete ich mich ein bisschen, blieb stehen und versuchte meine aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen. Mann, es war nur ein anderer Schüler, kein Monster! Und selbst wenn er
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