Briefe an eine Freundin
auszufüllen. Es kommt vielleicht daher, daß ich, ohne selbst sagen zu können, warum, sehr ungern mit Blinden zusammen bin. Da ich fühle, daß dies eine gewissermaßen ungerechte Empfindung ist, so überwinde ich mich da, wo die Gelegenheit vorkommt, aber der Zwang, den ich mir antue, hebt die Widrigkeit des Gefühls nicht auf. Der Anblick kranker, auch nur glanzlos starrer, selbst verbundener Augen wirkt körperlich auf mich. Ich kann machen, daß ich der Empfindung nicht Raum gebe, aber ich kann nicht hindern, daß sie nicht entstehe und fortdauere. Schon ein Schirm vor den Augen anderer, besonders bei Frauen, ist mir unangenehm. Auch die Gewohnheit ändert darin nichts. Ich bin jahrelang wöchentlich mit Blinden zusammen gewesen, der Eindruck blieb aber immer derselbe. Daß ich nun, selbst blind, nicht mit andern sein möchte, ist nur eine Rückwirkung desselben Gefühls, wenn sie auch nicht dasselbe empfinden als ich, so kann ich doch nicht hindern, daß ich mich nicht außer mich selbst versetze und mich, andern gegenüber, mir selbst vorstelle. Leben Sie herzlich wohl. Ich wünsche sehr, daß es mit Ihren Augen besser gehen möge. Mit unwandelbaren Gesinnungen der Ihrige. H.
Tegel
, den 24. Dezember 1829.
S o spät im Jahre, liebe Charlotte, habe ich Ihnen noch nie von hier aus geschrieben. Ich war seit langen Jahren immer in der Stadt um diese Zeit. Nur in früheren, glücklicheren Epochen meines Lebens brachte ich auch den Winter auf dem Lande zu. Was ich damals im heiteren Zusammensein tat, wiederhole ich jetzt allein. Das ist der Gang des menschlichen Schicksals. Es ist heute hier, und da so kleine Entfernungen keinen Unterschied machen, gewiß auch bei Ihnen ein äußerst kalter Tag. Doch war ich aus. Ich gehe alle Tage gerade so spazieren, daß ich die Sonne untergehen sehe. Ich versäume den Moment nicht gern, und die halbe Stunde vor- und nachher sind mir im Sommer und Winter die liebsten des Tages. Der Mond wartet dann oft schon, wenn die Sonne ihn nicht mehr überstrahlt, seinen Glanz wieder zu gewinnen. Heute ging die Sonne so in Nebel gehüllt unter, daß man statt ihrer Scheibe nur einen mattgelben Duft sah. Wenn ich immer betrachtende Ruhe liebte und mich ihr auch oft da hingab, wo ich mich im Gedränge von Menschen und Gewühl von Geschäften befand, so versenkt mich meine jetzige Einsamkeit noch mehr darin. Ich habe zu nichts anderem Neigung. Meine wissenschaftlichen Beschäftigungen sind damit verwandt, und ich fühle mit jedem Tage mehr, wie das reine und besonnene Nachdenken über sich selbst das
Innere zusammenschließt und den Frieden gibt, der gewiß immer das Werk Gottes ist, den aber doch, gerade nach Gottes deutlich zu erkennen gegebenem Willen, der Mensch nicht wie eine äußere Gabe von ihm erwarten, sondern durch die eigene Anstrengung seines Willens aus sich selbst schöpfen soll. Ich bin in jeder Epoche meines Lebens sehr gefaßt auf den Augenblick gewesen, der uns wieder daraus abruft. Ich bin es jetzt mehr wie je, wo ich dessen beraubt, was mir in jedem Augenblicke Genuß und die heiterste Freude gab, nun auf den kalten Ernst des Lebens zurückgewiesen bin. Ich glaube auch mit ziemlicher Gewißheit vorauszusehen, daß ich die mir vielleicht noch bestimmten Jahre wie die jetzt verflossenen Monate zubringen werde. Nur sehr bedeutende Dinge könnten mich zu einer Umänderung bringen. Bei kleineren würde ich's schon zu machen wissen, daß die Umänderung nur scheinbar wäre. Ich sehe daher mein Leben jetzt von der Seite an, daß es ein Vollenden, ein Abschließen der Vergangenheit ist. Es ist aber in meiner Art zu empfinden gegründet, daß mich dies nicht zur Beschäftigung mit dem Tode und dem Jenseits, sondern gerade zu den Gedanken, die auf das Leben gerichtet sind, bringt. Ich halte das auch nicht für eine Eigenheit in mir, sondern ich glaube, es müßte überhaupt so sein. Wenn man an den Tod zu denken empfiehlt, so ist das eigentlich nur gegen den Leichtsinn gerichtet, der das Leben wie eine immer
dauernde Gabe ansieht. Davon ist ein in sich gesammeltes Gemüt schon von selbst frei, übrigens aber weiß ich nicht, ob anhaltende Beschäftigung mit dem Tode und dem, was ihm folgen wird, der Seele heilsam sei. Zwar möchte ich nicht darüber absprechen, da es mehr Sache des Gefühls als der Untersuchung durch bloße Vernunftgründe ist. Ich glaube es aber nicht. Die aus dem Vertrauen auf eine Allgüte und Allgerechtigkeit entspringende Zuversicht, daß der Tod
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