Briefe an eine Freundin
sich zu einer höheren Stufe der Geistigkeit erheben, oder zu der gleichen auf dem kürzeren Wege stiller Gottseligkeit gelangen.
Wenn man die Welt weltlich betrachtet, so tritt vor zwei sich aufdrängenden gewaltigen Massen das Individuum ganz in den Schatten zurück oder wird vielmehr in einem großen Strome fortgerissen. Dieser Eindruck entsteht nämlich, wenn man den Zusammenhang der Weltbegebenheiten und wenn man den Wechsel des sich auf der Erde ewig erneuernden Lebens ins Auge faßt. Was ist der einzelne in dem Strome der Weltbegebenheiten? Er verschwindet darin nicht bloß wie ein Atom
gegen eine unermeßliche, alles mit sich fortreißende Kraft, sondern auch in einem höheren, edleren Sinne. Denn dieser Strom wälzt sich doch nicht, einem blinden Zufall hingegeben, gedankenlos fort, er eilt doch einem Ziele zu, und sein Gang wird von allmächtiger und allweiser Hand geführt. Allein der einzelne erlebt das Ziel nicht, das erreicht werden soll, er genießt, wie ihn der Zufall, worunter ich nur hier eine in ihren Gründen nicht erforschbare Fügung verstehe, in die Welt wirft, einen größeren oder kleineren Teil des schon in der Tat erreichten Zweckes, wird dem noch zu erreichenden oft hingeopfert und muß das ihm dabei angewiesene Werk oft plötzlich und in der Mitte der Arbeit verlassen. Er ist also nur Werkzeug und scheint nicht einmal ein wichtiges, da, wenn der Lauf der Natur ihn hinwegrafft, er immer auf der Stelle ersetzt wird, weil es ganz widersinnig zu denken wäre, daß die große Absicht der Gottheit mit den Weltbegebenheiten durch Schicksale schwacher einzelner auch nur um eine Minute könnte verspätet werden. In den Weltbegebenheiten handelt es sich um ein Ziel, es wird eine Idee verfolgt, man kann es sich wenigstens, ja man muß es sich so denken. Im Laufe der körperlichen Natur ist das anders. Man kann da nichts anderes sagen, als daß Kräfte entstehen und so lange auslaufen, als ihr Vermögen dauert. So lange man bei einzelnen stehen bleibt, scheint darin ein Mensch gar sehr von anderen
verschieden, verschieden an Tätigkeit, Gesundheit und Lebensdauer. Sieht man aber auf eine Masse von Geschlechtern, so gleicht sich das alles aus. In jedem Jahrhundert erneuert sich das Menschengeschlecht etwa dreimal, von jedem Lebensalter stirbt in einer gewissen Reihe von Jahren eine gleiche Zahl. Kurz, es ist deutlich zu sehen, daß eine nur auf die Masse, auf das ganze Geschlecht, nicht auf den einzelnen berechnete Einrichtung vorherrscht. Wie man sich auch sagen und wie fest und tief man empfinden mag, daß darin einzig und ausschließlich allweise und allgütige Leitung waltet, so widerstrebt doch nichts so sehr der Empfindung des einzelnen, zumal wenn sie eben schmerzlich bewegt ist, als dies gleichsam rücksichtslose Zurückwerfen des fühlenden Individuums auf eine nur wie Naturleben betrachtete Masse. Darum fand man es so empörend, wie einmal kurz nach der französischen Revolution kalt berechnet wurde, daß die Zahl aller vor den Gerichtshöfen gefallenen Opfer nur immer einen ganz geringen Teil der Bevölkerung Frankreichs ausmache. Dazu kommt noch, daß in dieser Betrachtung der Mensch sich mit allem übrigen Leben, auch dem am meisten untergeordneten, vermischt. Sein Geschlecht vergeht und erneuert sich nicht anders als die Geschlechter der Tiere und Pflanzen, die ihn umgeben. Diese Betrachtungen, die ich die weltlichen nannte, verschlingen also das individuelle Dasein, und da man ihre
innere Wahrheit nicht absprechen kann, so würden sie das Gemüt in öde und hilflose Trauer versenken, wenn nicht die innere Überzeugung tröstlich aufrichtete, daß Gott beides, den Lauf der Begebenheiten und den der Natur, immer so richtet, daß, die Existenz überirdischer Zukunft mitgerechnet, das Glück und das Dasein des einzelnen darin nicht nur nicht untergeht, sondern im Gegenteil wächst und gedeiht. Die wahre Beruhigung, der wahre Trost, oder vielmehr das Gefühl, daß man gar keines Trostes bedarf, entstehen erst, wenn man die weltlichen Betrachtungen ganz verläßt und zur Beschauung der Natur und der Welt von der Seite des Schöpfers übergeht. Der Schöpfer konnte den Menschen nur zu seinem individuellen Glück ins Leben setzen, er konnte ihn weder dem blinden Wechsel eines nach allgemeinen Gesetzen fortschreitenden Lebensorganismus hingeben, noch einem idealischen Zwecke eines lange vor ihm entstandenen und weit über ihn hinaus fortdauernden Ganzen opfern, dessen Grenzen und Gestalt er
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