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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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Gesicht, möchte ich sagen, neue Ideen. Erhält man nun aber gar bestimmte, ins Detail gehende Schilderungen, so sind es neue Figuren, die sich vor der Seele bewegen, und mit denen man ebenso lebt, wie in der Wirklichkeit. Dieser Hang, sich eigentlich an Menschengestalten zu ergötzen, in ihnen wie unter Anwesenden zu leben, verträgt sich doch sehr
gut mit dem entschiedensten Hange zur Einsamkeit. Sobald man mit Menschen umgehen muß, oder noch mehr, sobald man recht gern mit ihnen umgeht, befindet man sich selbst zu sehr in Tätigkeit, will sich auch wohl selbst geltend machen, und wird von bloß reiner Beschauung abgezogen. Lebt man aber mit dem Hange zur Einsamkeit unter Menschen, was man von Zeit zu Zeit nicht vermeiden kann, so gehen sie mehr wie Figuren der Beschauung vor einem vorüber, man richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf sie und nicht auf sich selbst. Wie man auf sie wirkt, wie man ihnen gefällt, bleibt einem sehr gleichgültig, wenn man sie nur in ihrer eigentlichen Natur sieht. Kehrt man dann in die wirkliche Einsamkeit zurück, so hat man viele Bilder um sich, und wenn man zu innerer Geistesbeschäftigung geneigt ist und aufgelegt, so entstehen aus den wirklichen Menschen idealische in der Phantasie, denen die wirklichen nur in den äußeren Umrissen zum Grunde liegen. Alle moralischen Fragen, alle tieferen Betrachtungen über Leben und Zweck des Lebens, über Glück und Vollkommenheit, über Dasein und Zukunft gewinnen ein reicheres Interesse, erlauben mannigfaltigere Anwendungen, wenn man sie gleichsam an so vielen Menschengestalten einzeln prüfen kann. Denn in jedem, auch selbst unbedeutenden Menschen liegt im Grunde ein tieferer und edlerer, wenn der wirklich erscheinende nicht viel taugt, oder noch edlerer,
wenn er in sich gut ist, verborgen. Man darf sich nur gewöhnen, die Menschen so zu studieren, und man kommt unvermerkt aus einem anscheinend alltäglichen Leben in eine ungleich höhere und tiefere Ansicht der Menschheit überhaupt. Es ist ja eigentlich das, worin das Gepräge jedes größeren Dichters liegt, diese Ansicht überall, und da er nur frei schaffen kann, ganz rein zu geben, oder vielmehr sie mitten aus aneinander gereihten, oft zufällig scheinenden Begebenheiten hervortreten zu lassen. Die Geschichte hat etwas Ähnliches. Das menschliche Wesen tritt auch schon reiner und größer in ihr hervor, als in den tausendfältigen kleinen Umgebungen der Gegenwart. Einen interessanten Charakter mehr im Bilde zu besitzen, ist ein eigentlicher Lebensgewinn, und mit dem Einzelnen verbinden sich nun bisweilen die von Ständen, Zeiten, Gegenden. So habe ich immer eine entschiedene Neigung zu den Landpredigern gehabt, und eine Art romantische für ihre Töchter. Das war schon in mir, ehe ich Sie gesehen hatte, und nachher hat es eben durch Sie unendlich in mir zugenommen, obgleich Sie die Einzige geblieben sind, die diesen Eindruck auf mich gemacht hat. Einen großen Teil alles Guten im deutschen Charakter habe ich aus den Landprediger-Töchtern abgeleitet: die tiefe, nicht tändelnde Empfindung; die Einfachheit bei hoher Bildung; die Entfernung alles vornehmen unangenehmen Tons, bei allen Eigenschaften,
die man in vornehmen Zirkeln gern hat. Ich habe davon oft gesprochen und dann bei mir lachen müssen, daß ich das alles im Grunde von Ihnen herleitete, da ich nie eine andere Prediger-Tochter auch nur irgend näher gekannt hatte. Aber ich hatte, wie ich Ihnen sage, ein Vorgefühl davon, denn schon zu Ihnen hat mich diese Neigung, wie wir uns sahen, schnell hingezogen. Nun waren Sie mir, ein halbgesehenes Bild, entschwunden, und gehörten also ganz der Phantasie an. Daher hat nun auch alles, was Sie mir von Ihrer Kindheit, Ihrer Jugend, Ihrem elterlichen Hause sagen, ein besonderes Interesse für mich. Ich prüfe daran, ob ich richtig oder falsch ahnte, und befinde mich in der Welt, in die mich meine jugendliche Phantasie versetzt hatte. Es ist mir jetzt doppelt leid, daß ich Ihren Vater und Sie nicht in demselben Herbste, wo ich Sie zuerst sah, besuchte. Ich war in Düsseldorf bei Jacobi und wollte von dort zu Ihnen, aber Jacobi hielt mich länger auf, und nun eilte ich nach Göttingen zurück. Man hat in der Jugend oft eine einfältige Pflichtmäßigkeit. Um ein paar Kollegienstunden nicht zu versäumen, versäumte ich etwas, was sich nie nachholen läßt, mir ein lebendiges Bild von Ihnen in jener Zeit, Ihrem Elternhause, Ihrem ganzen Leben zu verschaffen.
    Ich sagte im Anfange, daß Sie

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