Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)
II.
Die Stunde der Experten
Noch weit länger hat es gedauert, bis die Intelligenz zu einem Forschungsgegenstand geworden ist. Eine neue Wissenschaft, die Psychologie, hat sich als Nachzüglerin der Philosophie und der Theologie ihrer angenommen. Seitdem Wilhelm Wundt 1879 in Leipzig das erste Institut gründete, das solchen Untersuchungen gewidmet war, haben die Psychologen die Deutungshoheit darüber erobert, was unter Intelligenz zu verstehen ist. In ihrer heute landläufigen Bedeutung handelt es sich mithin um eine Erfindung, ohne welche die Menschheit ein paar hunderttausend Jahre lang auskommen mußte.
Der Fleiß der Psychologen hat begreiflicherweise auch die Soziologie nicht ruhen lassen, der es gelungen ist, dem I-Wort eine weitere Dimension zu eröffnen. Eine Schicht, die man früher vielleicht als Geistesarbeiter bezeichnet hätte, heißt seitdem ebenfalls Intelligenz. In diesem Fall hat man es freilich mit einem Import aus Rußland zu tun, einem Land, wo seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekanntlich die intelligenzija blüht.
Unser moderner Begriffscontainer hat somit den Vorteil, daß er überaus geräumig ist und eine große Artenvielfalt beherbergt. Sollte jemand immer noch ernsthaft glauben, Intelligenz sei gleich Intelligenz, so irrt sich der. Die Experten haben keine Mühe gescheut, um in das Durcheinander, das in unseren Köpfen herrscht, ein wenig Ordnung zu bringen. Sie unterscheiden penibel, wie es ihre Art ist, zwischen biologischer und psychometrischer, motorischer und rationaler, analytischer und kreativer, sprachlicher und visueller, räumlicher und logisch-mathematischer, kinästhetischer und musikalischer, pragmatischer und mechanischer, interpersonaler und intrapersonaler, kristalliner und flüssiger, funktionaler und manipulativer Intelligenz – und das sind keineswegs alle Sorten, die es unter eine Haube zu bringen gilt. Den Vogel hat bei dieser Übung ein amerikanischer Psychologe – besser gesagt: Psychometer – namens J. P. Guilford abgeschossen, der es in seinem Werk The Nature of Human Intelligence 6 auf sage und schreibe einhundertundzwanzig Spielarten gebracht hat.
Doch auch seine Liste ist keineswegs vollständig. Es werden nämlich fortwährend neue Arten entdeckt. Als besonders wertvoll haben sich in den letzten Jahrzehnten die soziale und die emotionale Intelligenz erwiesen, während die Führungs- und die Erfolgsintelligenz bisher wenig akademisches Ansehen genießen und eher in den Management-Ratgebern florieren.
Ausschweifend, porös, diffus, so stellt sich der I-Begriff dar. Eine Einigung dürfte da kaum zu erzielen sein. Vielleicht sollten wir, statt im Labyrinth der Fachleute umherzuirren, bei einer anderen Quelle Rat und Auskunft suchen – einer Quelle, die jedem zu Gebote steht. Das ist die Sprache, in deren Wortschatz sich über lange Zeiträume hinweg gespeicherte Erfahrungen niedergeschlagen haben. Mit wissenschaftlichen Methoden kann ein solches Vorgehen leider nicht aufwarten. Es könnte sich jedoch erweisen, daß das Vokabular der Alltagssprache über so reiche Differenzierungsmöglichkeiten verfügt, daß die akademische Terminologie ihm nicht das Wasser reichen kann, wenn es um subtile Nuancierungen und vielsagende Untertöne geht. Allerdings, mit dem wertfreien Urteil, das bei der Forschung so hoch im Kurs steht, hat unser Wortschatz nichts im Sinn.
III.
Aufs Maul geschaut
Öffnen wir also den Intelligenz-Container einen Spalt weit und lassen die Eingeschlossenen frei. Als erste stellen sich vor: der Vernünftige, begleitet von seinem kleinen Bruder, dem Verständigen, und gefolgt vom Klugen, vom Einsichtigen und vom (Erz- oder auch Blitz-)Gescheiten. Es dürfte auf der Hand liegen, daß es sich dabei keineswegs um Synonyme handelt. Auch in der langen Prozession, die folgt, mag es Ähnlichkeiten geben, aber eineiige Zwillinge wird man kaum entdecken. Während sich nämlich der eine geistvoll gibt, ist der andere weise. Es treten ferner auf den Plan: der Hell-, der Weit- und der Umsichtige, der Klardenkende, der Hochbegabte, der Scharf-, der Fein- und der Tiefsinnige. Auch der Geistesgegenwärtige darf nicht fehlen. Es wäre fatal, den Besonnenen mit dem Gewitzten zu verwechseln oder gar den Begabten mit dem Genialen. Bescheidener tritt hingegen auf, wer nur findig, ein heller oder ein aufgeweckter Kopf ist.
Nicht jeder, den unser Container beherbergt, genießt bei seinen Mitmenschen unbedingten Respekt. Die Bewunderung für den Spitzfindigen und
Weitere Kostenlose Bücher