Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
Vom Netzwerk:
Stelle über mich vorkommt, für die ich Ihnen sehr dankbar bin, hat mich sehr interessiert. Ich liebe die Ansichten, die jemand, der bei vielen andern genauen Übereinstimmungen doch sehr verschieden sein muß, über Gegenstände wie über Schriften hat, mit denen man durch das Leben gegangen ist. Es muß in solchen Beurteilungen vieles einseitig, selbst unrichtig sein, aber es ist die wahre, die natürliche und die eigene Ansicht, diese zieht immer an, weil man von ihr aus wieder Blicke in das Individuum tut, sie ist auch in hohem Grade belehrend, weil man sie sich gar nicht so von selbst vorstellen kann, und den Wert, den Eindruck, die Wirksamkeit der Dinge meist nur nach allgemeinen Maßstäben mißt und nur gewohnt ist, sich alles im Zusammenhange mit Denkart, Charakter, Erziehung und äußeren Umständen zu denken. Man wird die individuelle Ansicht immer ehren, auch wenn man nicht darin übereinstimmen könnte. Das, was Sie über mich sagen, ist sehr liebevoll und gütig, aber ich kann auch gewiß hinzusetzen, daß das gewiß wahr ist, daß ich unfähig wäre, je einen Menschen, der mir irgend nahe stand,
zu vergessen oder aufzugeben, ich verfolge vielmehr jede Spur, die aus der Vergangenheit übrig ist. Jede solche Verbindung, ja jedes solches bloßes Begegnen, hängt ja mit so vielen in einem zusammen, und das Leben ist schon ein solches Stück- und Flickwerk, daß man nicht genug trachten kann, die zusammenhängenden Teile fester aneinander zu knüpfen. Freilich kommt es auch darauf an, daß die, an die man sich auf solche Weise erinnert, noch etwas behalten haben, was dem Bilde entspricht, das in der Seele lebt. Aber selbst, wenn das nicht ist, wie ich auch deren Beispiele in meinem Leben habe, so ergötze ich mich doch, wenn mir solche Personen wieder vorkommen, sie und ihr Treiben zu betrachten, ohne ihnen weiter ein fortdauerndes Interesse zu beweisen. Bei Ihnen ist das nun aber sehr anders; Sie haben so lange Jahre mein Andenken treu bewahrt, ohne irgendein Zeichen des Andenkens von mir zu empfangen; Sie leben gern und viel in Gedanken mit mir; Sie machen keine Ansprüche noch Forderungen an mich, als die ich gern und mit Freuden erfülle.
    Sie bitten mich abermals, meine Briefe bewahren zu dürfen. Liebe Charlotte, ich bin ein großer Feind von alten Briefen, und wenn auch gar nichts darinnen steht, was irgend jemandem im mindesten nachteilig sein könnte, habe ich das Aufheben nicht gern. Ein Brief ist ein Gespräch unter Anwesenden und Entfernten. Es ist seine Bestimmung, daß er nicht
bleiben, sondern vergehen soll, wie die Stimme verhallt. Bleiben soll der Eindruck, den er in der Seele hervorbringt, und den dann der zweite und die folgenden verstärken oder verändern.
    Aber Sie legen einen so hohen Wert darauf, Sie bitten mich so inständig und dringend darum, daß ich es Ihnen gewiß nicht abschlagen will. Behalten Sie also immerhin die Blätter. Es ist ja dazu sehr lieb und gut von Ihnen, daß Sie sagen, Sie holen sich immer daraus, was Sie bedürfen. Ich schreibe nie eine Zeile, die ich nicht mit Fug und Recht verteidigen könnte, so ist es mir auch nicht gegeben, über das Schicksal meiner Briefe unruhig zu sein. Auch war es das nicht, was mich bewog, Sie um Verbrennung der meinigen zu bitten, sondern, wie ich oben sagte, weil ich das Aufheben der Briefe überhaupt nicht liebe. Selbst das Lesen alter Briefe will mir nicht recht einkommen. Ich dächte, man beschäftigte sich lieber mit dem Gegenstande in Gedanken, an dem das Herz hängt, da der Brief doch sein Leben verloren hat, wenn er nicht eben von geliebter Hand kommt. Bei Ihnen ist das anders. So behalten Sie immerhin die Briefe. Es macht mir Freude, Ihnen einen Wunsch zu gewähren, da Sie so selten einen Wunsch aussprechen. Nun leben Sie herzlich wohl, liebste Charlotte, und bleiben Sie um mich mit Ihren Gedanken, die meinigen teilen oft Ihre Einsamkeit. Ihr H.
+   +   +

    Sie wundern sich, daß eine Liebe zur Beschäftigung mit Empfindungen, eine Milde und Zartheit in denselben, ein Eingehen in fremde Gemütsstimmungen, mir unter vielen und abziehenden Geschäften geblieben ist. Das kommt doch nur daher, daß jenes eigentlich die natürliche Beschaffenheit meines Gemüts ist, und daß es mir immer eigen gewesen ist, gegen das innere und eigentliche Sein, die Geschäfte nur wie eine Art Nebensache zu behandeln, immer ihrer mächtig zu bleiben, statt mich von ihnen beherrschen zu lassen. Man macht sich darum und auf diese Weise nur

Weitere Kostenlose Bücher