Briefe an eine Freundin
sagen, daß man bei einem solchen Aufzeichnen des Vergangenen sein Leben noch einmal lebt, ist sehr wahr, allein der Eindruck, den die Wirklichkeit, und derjenige, den die bloße Erinnerung macht, sind notwendig sehr voneinander verschieden.
Wo die Begebenheiten schmerzlich sind, ist die Wirklichkeit in ihrem schroffen und starren Wesen, und von der Ungewißheit dessen, was weiter erfolgen wird, begleitet, niederschlagend
und zerreißend. Die Erinnerung dämpft diese Gefühle bis zur sanften Wehmut. Das Schmerzvolle ist nicht mehr ein einzelner, abgeschnitten dastehender Moment, sondern verschmelzt sich mit dem ganzen Leben, und erhält dadurch einen ungleich milderen Charakter. Und sehr wohltätig und heilsam ist dann gewiß ein solches rückwärts gehendes Vertiefen in die Vergangenheit, das zugleich ein Vertiefen in die mannigfachen Falten des eigenen Gemüts und Herzens ist. Wie gut man sich auch schon erkennen möge, so gewinnt das Bild, je öfter man es wieder zu zeichnen versucht, immer mehr Klarheit und Bestimmtheit, und wird auch wohl in einzelnen Zügen noch berichtigt und der Wahrheit nähergebracht. Die Furcht, daß Sie durch eine Selbstschilderung bei mir verlieren könnten, dürfen und können Sie eigentlich nicht haben. Sie brauchen auch darin nicht, liebe, gute Charlotte, sich an meine Nachsicht und milde Beurteilung zu wenden. Gerade ein so ausführliches, so das ganze Leben wie aus seiner ersten Knospe entfaltendes Verwahren bewahrt vor jedem Mißverständnis, jedem Irrtum, jeder falschen Beurteilung. Es kommt im Menschen, wie Sie auch gewiß denken, immer unendlich mehr auf das Wesen, als auf die einzelnen Handlungen an. Die gewöhnlichen Menschen richten allerdings nur die letzten, wie es auch die Gesetze tun. Aber die Macht, die die Herzen durchspäht, geht auf die Gesinnung, die Absicht,
die ganze Beschaffenheit und Stimmung des Gemüts, und dasselbe tut auch die Geschichte. Jede zusammenhängende Erzählung aber, welche die Erfolge aus ihren Ursachen zu entwickeln strebt, ist Geschichte und bringt denselben Eindruck hervor, sie mögen Weltbegebenheiten oder die Schicksale eines einfachen Privatlebens zum Gegenstande haben. Überhaupt wünscht man ja nicht darum die Begebenheiten eines Menschenlebens zu übersehen, um sich gleichsam zum Richter darüber aufzuwerfen, am wenigsten ist ein solches Beurteilen je mir eigen. Die Anschauung eines interessanten Gemütszustandes, die Betrachtung seiner Ursachen und Folgen, zieht – ohne daß man nur daran denkt zu urteilen oder zu richten – das Gemüt des Beschauers an, wenn der Gegenstand ihm wert ist und seinen Anteil erweckt, ja, wenn das abgesondert werden könnte, so erblickt man in der einzelnen Gestalt die allgemeine, in dem einzelnen Menschen die Menschheit selbst. Dagegen bin ich überzeugt und habe es schon an den bisherigen Heften erfahren, daß Ihre Erzählung mir sehr oft, ohne daß Sie es wollen, ja, ohne daß Sie es nur ahnen werden, Veranlassung geben wird, die Meinung, die Sie mir vor einer langen Reihe von Jahren durch Ihren Anblick und Ihre Gespräche und nachher durch Briefe und Schilderungen einflößten, und aus der mein warmer, lebhafter und sich immer gleicher Anteil an Ihnen entsprang, zu bestätigen, mit
neuen Beispielen zu belegen und selbst zu erweitern. Fahren Sie also ja, teure Charlotte, nur mutig und ohne einige Besorgnis, je mißverstanden zu werden, fort. H.
Den 10. September 1823.
I ch habe nun das empfangene Heft Ihrer Lebensbeschreibung mit großer Sammlung und sehr großem Vergnügen gelesen und wiederhole Ihnen meinen wirklich recht herzlichen und aufrichtigen Dank dafür. Ich habe die Zeiten gewählt, wo ich am freiesten war, mich in die geschilderten Lagen zu versetzen, und habe also langsam und mit großem Bedacht jedes Einzelne erwogen. Einige der Schilderungen sind mir ungemein anziehend und reizend vorgekommen. Es muß Sie das nicht wundern. Wenn man den Inhalt dieser Bogen in seinen Resultaten erzählt, so kann das Leben eines Kindes nur höchst unbedeutend scheinende geben. Aber wenn man eine sehr ausführliche Schilderung vor sich hat, ist es durchaus anders. Es ist dann nicht mehr die Sache, das Resultat, es ist die Veränderung, die dabei in der Seele vorgeht, die innere Entwickelung der Ideen und Empfindungen, und die ist bei einem Kinde nicht bloß ebenso anziehend als bei Erwachsenen, sondern im Grunde mehr, da das Kind zu mehr Vergleichen Stoff darbietet. Wie Sie zum Beispiel sich als
Weitere Kostenlose Bücher