Briefe an eine Freundin
wahrhaft und trägt es mit sich, so lange noch überhaupt Dasein währt. Es hat mir immer unmöglich geschienen, daß, was
einmal in mir denkt und empfindet, je aufhören könnte zu denken und zu empfinden. Wenn auch Zwischenräume mangelnden Bewußtseins eintreten, wenn die verschiedenen Zustände des Seins nicht verknüpft sein sollten durch zusammenhängende Erinnerung, so wirkt die einmal gefaßte Idee darum nicht minder auf das Wesen und den inneren Gehalt der Seele. Ganz anders ist es, wenn man die, an äußern Verhältnissen, wirklichen Geschäften teilnehmende Arbeit, nicht aus ganz freier Wahl, nicht aus unmittelbarer Liebe zu ihr, sondern aus andern Rücksichten und als einen Erwerb treibt. Auf diese Art würde ich sie ohne Mühe so lange fortsetzen können und fortgesetzt haben, als nur die Kräfte es zulassen. Darin sind Frauen besonders gut daran, daß die Arbeiten, die sie auf diese Weise machen, wenn auch nicht immer ganz, doch größtenteils mechanischer Art sind, den Kopf wenig, die Empfindung gar nicht in Anspruch nehmen, und also den bessern, zartern und höhern Teil des Menschen viel mehr sich selbst überlassen, als das bei Männern der Fall ist. Daher werden Männer so leicht einseitig, trocken, hölzern durch ihre Arbeit, Frauen nie, wenn sie auch durch Umstände und Widerwärtigkeiten bestimmt werden, einen Erwerb darin zu suchen, wenn in ihrem frühern Leben sie noch so fern von einer solchen Notwendigkeit waren.
Was mir aber weniger angenehm ist in meiner Lage, ist, daß ich nicht gut vermeiden kann,
auch in demselben Jahre mehrmals den Aufenthalt zu wechseln. Ich gewöhne mich zwar leicht an einen neuen Ort, aber ich bleibe lieber an einem alten, und es hat vorzüglich einen großen Reiz für mich, so in demselben die Reihe der Jahreszeiten vorübergehen zu sehen. Die bloßen regelmäßigen Veränderungen der Zeit haben einen Reiz für mich, den ich mir oft selbst vergebens zu erklären versucht habe. Sie werden sagen, daß bei der völligen Freiheit, die ich genieße, ich leicht auch hier mein Leben nach meinen Wünschen einrichten könnte. Allein es gibt doch immer auch für den Freiesten Umstände, die ihn mit einer gewissen Nötigung bestimmen, und so geht es auch mir. Leben Sie nun herzlich wohl und verzeihen Sie, wenn ich in diesen Zeilen viel von mir sprach. Ich rede zu Ihnen, wie zu mir selbst, und habe es auch gern, wenn Sie mir von sich erzählen. Mit der herzlichsten Anhänglichkeit der Ihrige. H.
Tegel
, den 26. Mai 1823.
U nsere Briefe haben sich gekreuzt, liebe Charlotte, ich hatte Ihnen geschrieben, ohne einen Brief von Ihnen abzuwarten, und Sie haben den Ihrigen früher als gewöhnlich abgehen lassen.
Die Stelle in Ihrem Briefe über das Pfingstfest hat mich sehr gefreut und spricht ganz Ihr tiefstes Gemütsbedürfen aus. Auch mir ist es
eigentlich das liebste unter den großen Festen. Seine heilige Bedeutung, das Herabsteigen göttlicher Kraft auf menschliche Wesen, hat etwas zugleich Tröstendes und Erhebendes, und das doch nicht über der Fassungskraft unsers Geistes liegt, da man wohl zu begreifen vermag, wie sich geistig Göttliches und Menschliches mischt. Irdisch genommen aber ist es ein gar liebliches Fest, weil es den Winter recht eigentlich beschließt und man nun dem heiteren Sommer entgegengeht. – Was Sie über Schmerz sagen, begreife ich sehr wohl, nämlich, daß Sie nicht dahin gekommen wären, Glück und Unglück, und besonders den Schmerz, nicht sehr zu achten. Es hat mir schon öfter geschienen, als wäre Ihnen nicht gerade viel Stärke darin verliehen, und dies ist wohl das Zeichen einer schönen Weichheit einer weiblichen Seele, wo es unnütz und unrecht zugleich wäre, sich abhärten zu wollen. Ich will es daher auch nicht unternehmen, Sie das zu lehren, sondern vielmehr von innigem Herzen wünschen, daß Schmerz und Unglück, so wie jeder Kummer von Ihnen fern bleiben mögen. Ich will gern und mit Freuden, wo ich kann, dazu beitragen. Aber bei einem Manne muß das anders sein. Wenn ein Mann dem Schmerze Herrschaft über sich einräumt, wenn er ihn ängstlich meidet, über den unvermeidlichen klagt, flößt er eher Nichtachtung als Mitleid ein. So vieles muß in einer Frau anders sein als im Manne. Einer Frau geziemt
es sehr wohl, und scheint natürlich in ihr, sich an ein anderes Wesen anzuschließen. Der Mann muß gewiß auch das Vermögen dazu besitzen, aber wenn es ihm zum Bedürfnis würde, so wäre es sicher ein Mangel oder eine
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