Briefe an eine Freundin
Größten teil und werde Ihnen immer mit Ruhe, Vernunft und herzlicher Teilnahme in allen Dingen raten, sie mit Ihnen prüfen und Ihre innere Zufriedenheit, wie Ihr äußeres Wohlsein nach meinen Kräften befördern. In unserm Briefwechsel tue ich es mit Fleiß, daß ich Ihre Gedanken aufnehme, die meinigen entwickele und ausspreche, ob beide übereinstimmen oder nicht. Es ist das der Hauptvorzug eines Briefwechsels, der keinen äußeren Gegenstand betrifft, sondern nur Mitteilung von Gedanken und inneren Stimmungen enthält. Aber ich habe darum garnicht die Anmaßung, daß ich gerade immer recht habe, und selbst wo ich es glaube, fordere ich nicht, daß Sie es finden sollen; vielmehr ist mir jeder Widerspruch immer erwünscht. So, liebe Charlotte, sehen Sie mein Verhältnis zu Ihnen an, und gewinnen und bewahren
Sie ungestörtes Vertrauen, Zufriedenheit und Heiterkeit, verbunden mit der Ruhe, die jedem Alter, vorzüglich aber, wie ich an mir selbst fühle, dem höheren so wohltätig ist. H.
Ottmachau
, den 10. April 1826.
I ch bin heute hier angekommen, liebe Charlotte, und habe Ihren lieben Brief vorgefunden, der hier gewiß schon lange gelegen hat. Denn obgleich ich den 29. März aus Berlin abgereist bin, so habe ich mich, ehe ich hierher kam, an mehreren Orten ausgehalten. Es würde mir recht angenehm gewesen sein, wenn man Ihren Neffen zu mir gebracht hätte. Ich habe es immer zum Grundsatz gehabt, daß man in jedem Alter und jeder Lage sehr zugänglich sein muß, und ich weise auch Unbekannte nie zurück. Man hat gegenseitig Vorteile davon; ein lebender Mensch ist immer ein Punkt, an den sich wieder anderes anschließt, und wo man nicht berechnen kann, wo und wie es sich wieder zu etwas Erfreulichem gestaltet. Leute aber, die sich mit wissenschaftlichen Gegenständen beschäftigen, haben immer, auch wenn sie im Anfange ihrer Laufbahn sind, ein höheres Interesse als andere, und man geht mit ihnen leicht auch in Dinge ein, die einem nach seiner eigenen Lebensweise und Bildung fremd sind. Denn am Ende hängt doch, wäre es auch nur in den höchsten und allgemeinsten Punkten, alles, was mit
Ideen ausgemessen werden kann, zusammen, und die Berührung mit Personen verschieden artiger Ausbildung, wenn diese nur irgendeinen bedeutenderen Grad erreicht hat, wirkt vorzugsweise belebend auf den Geist und verhindert die Einseitigkeit, der man sonst selten, und selbst dann nicht entgeht, wenn man auch im Leben sich mit Menschen aller Stände gemischt hat und reich an wechselnden Erfahrungen gewesen ist.
Sie haben unrecht, liebe Charlotte, wenn Sie sagen, daß ich jetzt gegen Sie einen zu höflichen, gleichsam alles billigenden Ton annehme. Meinem Gefühle nach ist das nicht der Fall, und daß ich nicht jede Ihrer Meinungen teile, oder in alle Ihre Ideen eingehe, hat Ihnen noch mein letzter Brief bewiesen, wo ich ganz verschiedener Meinung mit Ihnen war. Dies zeigt Ihnen deutlich, daß ich Ihre Ansichten und Ideen prüfe. Mit den Gesinnungen der herzlichsten Anhänglichkeit der Ihrige. H.
Glogau
, den 9. Mai 1826.
M eine Reise, liebe Charlotte, hat sich über meine Erwartung verzögert, ich bin aber nun auf der Rückreise nach Berlin und schreibe Ihnen von hier, da ich früher, als ich dachte, hier angekommen bin, und doch nicht weiter reisen mag, sondern hier übernachten will. Es ist sehr lange her, daß ich keinen Brief von Ihnen erhalten habe. Es war mir, so
leid es mir tat, unmöglich, Ihnen einen Ort anzugeben, wo mich Ihre Briefe mit Gewißheit gefunden hätten. Mein Aufenthalt war wechselnd, und obgleich ich vierzehn Tage in Ottmachau war, sah ich auch das nicht voraus, sondern meine Geschäfte zogen sich nur so von einem Tage zum andern hin. Jetzt bitte ich Sie, liebe Charlotte, mir den 23. dieses Monats zu schreiben, da trifft mich der Brief gewiß in Berlin, wohin Sie wie gewöhnlich adressieren. Ich hoffe, daß alsdann nicht wieder eine solche Unterbrechung unseres Briefwechsels stattfinden soll, da ich immer sehr ungern Ihre Briefe und Nachrichten entbehre. Ich fürchte, daß Ihnen das kalte und unfreundliche Wetter Übelbefinden zugezogen hat. Es war hier wenigstens – ich meine in Schlesien – sehr rauh und garnicht der Jahreszeit gemäß. Aus Berlin höre ich dieselben Klagen, aber seit drei, vier Tagen hat es sich geändert, und heute war ein warmer, schöner Sonnenschein, der mich von früh bis Abend im Fahren begleitet hat. Himmel und Erde boten einen sonderbaren Kontrast
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