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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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dar. Die Luft war ruhig, der Himmel blau, nur mit leichten Wolken hie und da bedeckt, die Sonne selten, nur auf Augenblicke, versteckt. Dagegen hatte die Erde keinen so friedlichen Anblick. Ich mußte auf einer Fähre über die Oder gehen, und mein Weg führte mich auch stundenlang an dem Ufer des Stromes hin, den ich erst hier verlassen habe. Vorgestern und gestern war der Fluß ungewöhnlich gediegen, große Felder waren überschwemmt, Dörfer
wurden ausgeräumt, die Menschen waren überall in Bewegung, der Flut zu wehren, die Dämme zu erhöhen und Vorkehrungen aller Art zu treffen. Menschen konnte nicht leicht ein Unglück begegnen, da die weite Wasserfläche, außer in der Strömung selbst, ruhig und still war. Es sah wunderbar aus, wie das Gebüsch aus dem Wasser hervorblickte. Seit dem Jahr 1813 hat man keine so große Flut hier gehabt. Die unfreundliche kalte Jahreszeit hat vermutlich den Schnee in den hohen Gebirgen vermehrt, den die Wärme einiger darauf folgenden Tage zu schnellem Schmelzen brachte. So erklärt man sich wenigstens hier das schnelle unbegreifliche Anschwellen des Wassers. Die Zeitungen erwähnen diese Überschwemmungen gewiß, und Sie werden darin davon lesen. Es ist aber wohl möglich, fällt mir ein, wie ich dies schreibe, daß Sie, liebe Charlotte, keine Zeitungen lesen. Ich würde dies wenigstens sehr begreiflich finden, schon wenn ich Sie nach mir beurteile. Ich habe wirklich seit dem 29. März, wo ich Berlin verließ, keine Zeitung angesehen, wenn ich ein paar Blätter ausnehme, die mir zufällig in die Hand gefallen sind. Mein Leben kann innerlich und äußerlich recht gut fortgehen, ohne daß ich in Berührung mit dem bin, was man Weltbegebenheiten nennt. Wenn die wirklich großen sich ereignen, und die Kunde davon gewiß ist, erfährt man es, ohne die Zeitungen zu lesen, und alle kleinen aufzusammeln, oder die großen von ihrem Entstehen
an zu verfolgen, oder dem Schwanken der Nachrichten über sie Monate lang nachzugehen, hat kein erhebliches Interesse für mich und ermüdet bald meine Geduld. Auch in den Weltbegebenheiten und den Ereignissen, die ganze Staaten erleben, bleibt doch immer das eigentlich Wichtige dasjenige, was sich auf die Tätigkeit, den Geist und die Empfindung einzelner bezieht. Der Mensch ist einmal überall der Mittelpunkt, und jeder Mensch bleibt doch am Ende allein, so daß nur, was in ihm war und aus ihm ausgeht, auf ihn Wichtigkeit ausübt. Wie der Mensch im Leben auf Erden mitempfindend, wirksam, teilnehmend, immer sich gesellig entwickelnd, ist, so macht er den größeren Weg, der über die Grenzen der Irdischkeit hinausreicht, doch allein, und keiner kann ihn da begleiten, wenn auch freilich in allen Menschen die Ahnung liegt, jenseits des Grabes die wiederzufinden, die vorangegangen sind, und die um sich zu versammeln, die nach uns übrig bleiben. Kein gefühlvoller Mensch kann dieser Ahnung, ja dieses sichern Glaubens entbehren, ohne einen großen Teil seines Glückes, und gerade den edelsten und reinsten, aufzugeben, und auch die heilige Schrift rechtfertigt ihn. Ja, man kann ihn in einigen Schriftstellen als eine ausgemachte und zu den trostreichen Lehren des Christentums wesentlich gehörende Wahrheit aufgestellt finden. Allein, das ändert an dem, was ich erst sagte, nichts ab. Ich meinte nämlich, daß hier auf Erden alles, was sich auf
andere, und im ganzen auf künstlich eingerichtete Institute bezieht, doch nur insofern dem Menschen wahren Gewinn bringt, als es in den einzelnen eingeht. Alles Erhöhen der Bildung, alles Verbessern der Dinge und der Einrichtungen auf Erden, alle Vervollkommnung der Staaten und der ganzen Welt selbst besteht nur in der Idee, insofern es sich nicht im einzelnen Menschen ausspricht, und darum nehme ich in allen, auch den größten Weltbegebenheiten immer den einzelnen, seine Kraft zu denken, zu empfinden und zu handeln, heraus. Die Allgemeinheit der Begebenheit macht nur, daß sie zugleich auf viele so wirkt, oder durch ein solches Wirken vieler entsteht, und die Größe der Begebenheit, daß sie außerordentliche und ungewöhnliche Kräfte in Bewegung setzt oder zu Urhebern hat. Dadurch verknüpft sich denn auch das Privatleben mit dem öffentlichen. Was man in diesem an dem einzelnen Menschen bemerkt, findet sich auch, nur anders, durch andere Triebfedern in Bewegung gesetzt, zu anderen Handlungen anregend, in jenen. Es ist nur der Schauplatz, der sich ändert, das Schauspiel, der Gegenstand, an dem man sich

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