The Cutting
PROLOG
Juli 1971
Er hielt das vollkommen verängstigte Wesen fest an sich gedrückt. Er war ein kräftiger Junge, ziemlich groß für seine acht Lebensjahre, mit dunklen Haaren und länglichem, schmalem Gesicht. Seine normalerweise helle Haut hatte nach über einem Monat in der Sonne eine recht dunkle Bräune angenommen. Er fühlte das Zittern des erst wenige Wochen alten Häschens und spürte die Aufregung in sich aufsteigen in Erwartung des Abenteuers, das vor ihm lag. Der Junge widerstand dem Drang, den Weg zu seinem Geheimversteck rennend zurückzulegen. Er hatte Angst, über einen vorstehenden Stein oder einen Zweig zu stolpern, verborgen unter den langsam verfaulenden Blättern des vergangenen Herbstes. Dann würde seine Beute ihm womöglich entgleiten und davonhoppeln. Selbst im Gehen wurde der Atem des Jungen immer schneller. Sanft streichelte er das weiche Fell des Häschens, versuchte, dessen rasenden Herzschlag zu beruhigen und vielleicht auch seinen eigenen.
Er brauchte fast zwanzig Minuten, bis er sein Ziel erreicht hatte: eine Art natürliche Höhle aus wilden Weinranken, die sich um die Stämme der umstehenden jungen Weißtannen und Birken schlangen. Der Junge hatte die niedrigen Seitenwände aufgefüllt, indem er Fichtenzweige auf die Kletterranken geschichtet hatte. Außerdem hatte er alle Zweige, die nach innen gewachsen waren, abgeschnitten und Arme voll abgefallener Blätter und Tannennadeln als Bodenbelag herbeigeschafft. Die Höhle besaß einen Durchmesser von rund einem Meter zwanzig und war in der Mitte, an der höchsten Stelle, gerade mal einen knappen Meter hoch. Von oben fielen Sonnenstrahlen durch das Geäst und zeichneten ein Muster aus Licht und Schatten auf den Boden.
Der Junge kroch in die Höhle, den Hasen mit einer Hand an die Brust gedrückt. Die Feuchtigkeit des Bodens drang durch die Knie seiner Jeans und fühlte sich kalt an auf der Haut. Im Inneren der Höhle angekommen, legte er das kleine Tier auf den Boden und hielt es an den Ohren fest. Mit seinen schwarzen Knopfaugen fixierte es den Jungen, der darin sowohl Todesangst als auch Resignation zu erkennen glaubte. Ihm war, als ob das kleine Wesen wüsste – und auf seine Art auch akzeptierte –, was der Junge so sorgfältig geplant und vorbereitet hatte. Es schien ihm, als sollte es genau so sein.
Mit der freien Hand zog der Junge nun das Klappmesser aus seiner Gesäßtasche. Er hatte die siebeneinhalb Zentimeter lange Klinge am Schleifstein seines Vaters rasiermesserscharf geschliffen und gab sorgfältig Acht, sich beim Aufklappen nicht versehentlich in den Finger zu schneiden.
Dann zwang er sich, ein paar Sekunden lang zu verharren und die Vorfreude zu genießen. Als er die Messerspitze knapp unterhalb der Kehle des kleinen Wesens ansetzte, konnte er seinen eigenen Herzschlag spüren. Er stach fest zu, zog die Klinge in Richtung Bauch und schlitzte das Tier auf. Die Schreie des kleinen Geschöpfes erfüllten die Luft. Sie ähnelten den schrillen Schmerzensschreien seines jüngeren Bruders, wenn er mit ihm spielte. Er ließ sich durch das Geräusch jedoch nicht von seiner Aufgabe abbringen. Er war sich ziemlich sicher, dass es niemand hören konnte.
Das Gefühl, das seinen Körper erzittern ließ, während er auf das schlagende Herz des Hasen starrte und es einen Augenblick lang in der Hand hielt, bevor es aufhörte zu schlagen und das Wesen aufhörte zu leben, war absolut unbeschreiblich. Er wusste nur eines: dass es etwas war, was er immer und immer wieder erleben wollte.
1
Portland, Maine
Freitag, 16. September 2005
5.30 Uhr
An der Küste von Maine kommt der Nebel zuweilen gänzlich unerwartet. Der Morgen mag völlig klar sein, doch dann ziehen von einem Augenblick auf den anderen graue Nebelschwaden auf, so dicht, dass man kaum mehr die eigenen Füße erkennen kann. An diesem speziellen Septembermorgen senkten sich die Nebel um 5.30 Uhr, ungefähr zu der Zeit, als Lucinda Cassidy und ihr Begleiter Fritz, ein kleiner Hund von undefinierbarer Abstammung, den Friedhof in der Vaughan Street erreichten. Von hier aus wollten sie zu ihrem gut sechs Kilometer langen Jogging-Parcours aufbrechen, der sie durch die Straßen von Portlands West End führte und über einen schmalen Pfad entlang des Western-Promenade-Park.
Der Friedhof war einer der ältesten der Stadt und umgeben von einem Maschendrahtzaum, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Tore zur Vaughan Street waren verschlossen, um die in der
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