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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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allgemeine Wohltätigkeit erlangt haben, daß alle innere und äußere Bevorrechtung aufgehört, und jeder ohne Unterschied Gott so nahe zu stehen glauben kann, als er sich ihm durch seine eigene Kraft und Demut im Geist und in der Wahrheit zu nähern vermag. Es ist überhaupt in allem, im Religiösen und Moralischen, der wahrhaft unterscheidende Charakter des Christentums, die Scheidewände, die vorher die Völker wie Gattungen verschiedener Geschöpfe trennten, hinweggeräumt, den Dünkel, als gäbe es eine von der Gottheit bevorrechtete Nation, genommen, und ein allgemeines Band der Nächstenpflicht und Nächstenliebe um alle Menschen geschlungen zu haben. Hier ist nun nicht mehr von bildlichen Darstellungen und nicht mehr von Wundern die Rede. Es herrscht hier die geistige Gemeinschaft, welche die einzige ist, deren der Mensch wahrhaft bedarf, und zugleich diejenige, der er immer durch Vertrauen und Wandel teilhaftig werden kann. Ich gestehe daher auch, daß ich nicht in die Idee eingehen kann, als wäre oder als könnte nur noch jetzt eine engere Gemeinschaft zwischen Gott und einzelnen sein, als die allgemeine, der schlichten Lehre des
Christentums angemessene, in die jeder durch Reinheit und Frömmigkeit der Gesinnung tritt. Es wäre ein gefährlicher Stolz, sich einer solchen anderen und besonderen teilhaftig zu glauben, und das Menschengeschlecht bedarf dessen nicht. Frömmigkeit und Reinheit der Gesinnung und Pflichtmäßigkeit des Handelns, selbst schon Streben nach beiden, da das vollendete Erreichen keinem gelingt, sind alles, den Menschen, einzeln und in der Gesamtheit, Notwendige, und alles dem höchsten Wesen, wie wir es uns denken müssen, Wohlgefällige. – Schreiben Sie mir, liebe Charlotte, den 26. Dezember nach Hadmarsleben bei Halberstadt. Hadmarsleben ist ein Gut meiner Frau, wo ich mich einige Tage aufhalten werde. Mit der herzlichsten und unveränderlichsten Teilnahme der Ihrige. H.
     
     
Rudolstadt
, den 2. Januar 1827.
     

    D as neue Jahr hat begonnen, und ich wünsche Ihnen, liebe Charlotte, von ganzem Herzen Glück dazu. Mögen Sie es heiter, sorglos und vor allem in ungestörter Gesundheit durchleben. Ich hoffe, daß die Erfüllung dieser Wünsche wahrscheinlich ist.
    Ein Jahr scheint ein so kleiner Abschnitt des Lebens, und ist es auch gewissermaßen, da Tage, Wochen und Monate so unglaublich schnell verschwinden. Es ist aber doch wieder ein so wichtiger Abschnitt, da auch der längst Lebende nicht so viele dieser Abschnitte zusammensetzt. Es
fängt auch freilich mit jedem Tage gewissermaßen ebenso gut, als mit dem ersten Januar, ein neues Jahr an, aber es ist dennoch nicht abzuleugnen, daß das Schreiben einer neuen Jahreszahl immer etwas in sich trägt, das den Bedächtigen und gern Überlegenden in Nachdenken versetzt. Es ist überhaupt sehr meine Art, mich von Epoche zu Epoche zusammenzufassen und irgend etwas Neues in meinen Vorsätzen zu beginnen, und ich habe oft gefunden, daß es immer seinen Nutzen hat, wenn auch nicht immer alle Vorsätze in Erfüllung gehen oder durchaus dauerhaft sind. Es gibt auch mehr oder minder günstige Jahre, und das beweist sich, wie ich oft im Leben bemerkt habe, manchmal an gewissen Anzeichen, wenn sie auch augenblicklich unbedeutend und vorübergehend scheinen, in den ersten Tagen, wo die neue Jahreszahl beginnt. Sie werden das vielleicht etwas abergläubig finden, aber es ist es doch nicht so ganz und so sehr. Die Unfälle, die den Menschen betreffen, kommen weit mehr, als man es denken sollte, aus ihm selbst. Es gibt ein geheimes und unbemerktes Einwirken des Menschen auf die Dinge, was man ihm nicht Schuld geben kann, weil es nicht innerhalb seines Bewußtseins liegt, aber was doch von ihm kommt. Ist nun die Stimmung innerlich eine ungünstige, düstere, von Heiterkeit fern, so bringt sie auch so etwas im Äußeren hervor; wenn man das Leben nicht leicht, oder doch wenigstens ruhig und gleichmütig mit einer gewissen Kälte, als wäre einem
Glück und Unglück ziemlich gleich, aufnimmt, so stellt es sich nicht bloß insofern noch drückender und lastender, daß man es schwerer empfindet, sondern es begegnet einem, meiner Erfahrung nach, auch mehr Widerwärtiges. Auf große Dinge mag das, wie ich wohl glauben will, keinen Einfluß haben, aber auf die kleineren, die doch auch überwunden sein wollen, scheint es mir nicht abzuleugnen zu sein.
    Ihren lieben Brief werde ich erst in mehreren Tagen empfangen, es tut mir immer sehr leid, auch

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