Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
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BRIEF AN EINEN BLINDEN ZAHNARZT
Der Briefkasten befand sich bei achtzehn waagerecht, zwölf senkrecht, und die Klappe war mit einem Wollfaden umwickelt, damit Dr. Buagaew ihn nicht verfehlte. Er zeichnete den Umriss des Schlüssellochs mit dem linken Zeigefinger nach und schob den Schlüssel mit der rechten Hand ins Schloss. Der schmale Holzschacht duftete nach der Korrespondenz vergangener Tage: nach Packpapier und Klebstoff, nach alten Pergamenten und Geheimnissen. Seine Hand suchte den dünnen Umschlag. Er wusste, dass er da war, und er wusste auch, was er enthielt, denn nur eine andere Person kannte diese Postfachadresse.
Er verschloss die Klappe wieder, faltete den Umschlag zusammen, verstaute ihn in der Innentasche seiner Jacke und wandte sich zum Gehen. Das Bureau de Poste war wie immer brechend voll. Er hörte das wüste Geschrei der Bauerntölpel, die sich vor den Schaltern drängten. Das Kratzen der Stifte, die dringende Nachrichten auf Postkarten kritzelten, und das Knistern des Papiers, in das man für dreißig Kip seine Päckchen oder Pakete einschlagen lassen konnte. Gleich mehrere Leute brüllten in die Fernsprechapparate am anderen Ende der Halle und ließen halb Vientiane bereitwillig an ihren hochprivaten Angelegenheiten teilhaben.
All das gehörte zur Geräuschkulisse der Stadt, die Dr. Buagaew so sehr verabscheute. Wären die Briefe nicht gewesen, hätte er keinen Fuß hierhergesetzt. Jeden Tag stieg er beim Morgenmarkt aus dem Bus, überquerte die Khou Vieng Road, holte seine Post und fuhr mit derselben Linie zurück. Weiter nichts. Angesichts der wenigen Autos, die im August 1977 auf den Straßen der laotischen Kapitale unterwegs waren, konnte von »Verkehr« eigentlich nicht die Rede sein. Nur wer verwandtschaftliche oder berufliche Beziehungen zur sozialistischen Staatsregierung unterhielt, verfügte über die notwendigen Mittel, seinen Motor mit Petroleum zu geißeln. Zwei Fahrzeuge auf einer Straße galten bereits als Verkehrsstau. Und wenn sich die Hunde auf dem warmen Asphalt ausstreckten, war selbst am späten Vormittag noch Platz genug, sie weiträumig zu umfahren.
Vielleicht hatte Dr. Buagaew die Straße deshalb nie als potenzielle Gefahr betrachtet. Das würde jedenfalls erklären, warum er weder am bröckelnden Bordstein haltmachte noch auf das nahende Motorengeräusch achtete. Hatte er die Risse und Schlaglöcher in der Fahrbahn mit Hilfe seines Bambusstockes erst einmal erfolgreich umschifft, brauchte er nur noch den Maschendrahtzaun auf der anderen Seite zu finden und ihm bis zur Bushaltestelle zu folgen. Die Zeugen waren sich einig: Um in Vientiane unter die Räder eines Lastwagens zu kommen, musste man sich schon vor dieselben werfen. Und selbst dann war der LKW in der Regel so langsam, dass der Fahrer ausreichend Zeit hatte, auf die Bremse zu treten und unangenehme Zwischenfälle zu vermeiden.
Das ließ nur einen Schluss zu: Der blinde, alte Mann musste einen enormen Berg karmischer Schulden angehäuft haben, sonst wäre er wohl kaum vor den führerlosen Holztransporter gelaufen. Was für eine aberwitzige Verkettung von Zufällen! Ein chinesischer Lastzug. Ein verklemmtes Gaspedal. Und ein junger Fahrer, der zwanzig Meter vor dem Aufprall in panischer Angst vom Bock gesprungen war. Der LKW raste am Postamt vorbei und überrollte Dr. Buagaew, bevor er mit dem hölzernen Lautsprechermast an der Ecke Lane Xang Avenue kollidierte. Letzterer hielt der Schwerkraft noch ein paar Sekunden stand, dann kippte er um und krachte auf die leere Straße.
Obwohl die tragische Geschichte sich wie ein Lauffeuer verbreitete, vergoss kaum jemand eine Träne über den Tod des namenlosen alten Mannes. In den Herzen der Hauptstädter war für das Unglück ihrer Mitmenschen kein Platz. Seit einiger Zeit lag eine merkwürdige Stimmung über Vientiane. Die Regierung erinnerte zunehmend an einen ungeliebten Verwandten, der sich fürs Wochenende angekündigt hatte, nun aber schon seit zwei Jahren das Gästezimmer okkupierte. Es waren unangenehme Zeiten in einem Land, das mit Annehmlichkeiten ohnehin nicht eben reich gesegnet war. Die Dürre hatte der bedauernswerten Erde den letzten Tropfen Wasser abgetrotzt. Der für die Jahreszeit typische Monsun ließ auf sich warten, und ein paar kurze Mangoschauer waren rasch versickert und vergessen. Zwar hatte die Weltbank Reis gespendet, aber da es nur wenige LKW und noch weniger Benzin gab, gelangte kaum etwas davon in die ländlichen Regionen.
Eigentlich
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