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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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blind. Genauer gesagt, war.«
    Siri zog eins der Augenlider des Toten hoch, worauf der graue Star zum Vorschein kam, der die Pupillen des Mannes erweitert und seine Linsen getrübt hatte. Sie schillerten weißlich wie Opale.
    »Wohl wahr. Haben Sie eine Ahnung, wer er ist?«
    »Keinen Schimmer«, sagte der erste Beamte, »… Doktor. Ich dachte, das könnten Sie uns sagen.«
    »Tja, mein Junge, falls er seinen Namen nicht gerade auf sein Hinterteil tätowiert hat, bin ich genauso schlau wie Sie. Ich bin schließlich Pathologe und kein Hellseher.«

3
DER KLEBREISPOLIZIST
    Tante Bpoo war schon von Weitem als Transvestit zu erkennen. Selbst in finsterster Nacht hätte den nicht mehr ganz jungen Mann im Fummel wohl niemand mit einer Frau verwechselt. Bei Tageslicht freilich stach sie dem Beobachter auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins Auge wie ein Leuchtfeuer – oder doch zumindest wie eine Boje. Über ihren breiten Schultern spannten sich die Spaghettiträger eines grellrosa Tops. Ihre bleichen Speckrollen quollen über den Gummibund ihrer leopardengemusterten Leggings wie wild wucherndes Eis aus dem Gefrierfach eines billigen Kühlschranks. Das Rouge auf ihren Wangen und das Violett rings um ihre Augen standen einem Paradiesvogel in puncto Farbenpracht nicht nach. Und ihr schwarzes, militärisch kurz geschnittenes Haar brachte die cremeweiße Hibiskusblüte, die sie sich hinters Ohr gesteckt hatte, hervorragend zur Geltung.
    Siri hatte sich vor dem geschlossenen Kaffeestand auf der anderen Seite der Samsenthai Road postiert und tat, als wolle er einen verirrten Pflasterstein mit dem Fuß an seinen rechtmäßigen Platz bugsieren. Doch außer der schwarzen Stupa inmitten ihrer kleinen Insel aus verdorrtem Gras nahm von ihm niemand Notiz. Selbst durch den Staubschleier, der trübe über der Hauptverkehrsader der Hauptstadt hing, war Tante Bpoo eine Beleidigung fürs Auge. Siri machte kehrt und ging zu seinem Motorrad zurück. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Wie, um alles in der Welt, war er auf diese abstruse Idee gekommen? Er hätte wie geplant auf schnellstem Weg nach Hause fahren sollen. Aber nein. Stattdessen lungerte er hier herum und trug sich mit törichten Gedanken. Vielleicht hatte er auch nur wissen wollen, was in seine ansonsten vollkommen zurechnungsfähige Sektionsassistentin gefahren war, dass sie auf einen derart hanebüchenen Schwindel hereinfiel. Und wovon lebte diese Bordsteingräfin eigentlich? Sie nahm kein Geld für ihre Dienste, war aber offensichtlich auch nicht am Verhungern. Sein innerer Detektiv veranlasste Siri zur Umkehr und schickte ihn über die meistbefahrene Straße Vientianes. Normalerweise wäre er blindlings auf die Fahrbahn gelaufen, doch nach den Ereignissen des heutigen Tages beschloss er, am Randstein stehen zu bleiben und brav nach links und rechts zu schauen.
    Eine Minute später hockte er im Schneidersitz auf einer Bananenblattmatte im langen Abendschatten des Aeroflot-Schildes. Er sah Tante Bpoo beim Kartenmischen zu, sie mischte und mischte, bis sie den Damen und Königen die Nase aus dem Gesicht gescheuert hatte. Seit seiner Ankunft hatte sie ihn keines Blickes gewürdigt. Sie beachtete ihn gar nicht. Als sie ihr Schweigen schließlich doch brach, geschah es in Form eines Gedichts. Dachte Siri jedenfalls. Zwar hatte er schon des Öfteren schlechte Gedichte gehört, doch Tante Bpoos Elaborate besaßen eine ganz eigene Tiefe.
    » Aus einem Schaf (begann sie)
    Da werden vier. So geht es weiter
    Tier um Tier
    Löwe, Affe und Delfin
    Unsere eigenen Anomalien
    Perfekt geklont
    Hundertmal ich
    Du, er, sie
    Alles Eins.«
    Siri überlegte, was er tun sollte. Fragen, was das alles zu bedeuten hatte? Applaudieren? Er wollte eben etwas sagen, als der Transvestit aufblickte und sich ein Lächeln in seinem Clownsgesicht breitmachte – ein hässlicher, betelnussroter Schlitz.
    »Dr. Siri«, sagte sie. »Ich habe Sie bereits erwartet.«
    Siri war verdutzt. Woher wusste sie, wie er hieß? Sie waren einander nie begegnet. Vielleicht hatte Dtui …? Um seine Verwunderung zu überspielen, simulierte er einen Hustenanfall.
    »Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen …«, begann er.
    »Dass Sie meine Prophezeiungen für ausgemachten Humbug halten«, sagte sie.
    Siri war beeindruckt. Sie hatte ihm die Worte aus dem Mund genommen. Es war entweder ein brillanter Trick oder ein schier unglaublicher Zufall.
    »Kompliment. Dann können Sie mir doch bestimmt auch sagen, was ich

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