Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Menge Bekloppte, die sich ein Stück von meinem Kuchen abschneiden wollen. Sie denken, sie könnten sich bei mir ein paar Tricks abgucken. Und schwuppdiwupp machen sie ein paar Häuser weiter einen Laden auf und nehmen mir die Kunden weg.«
»Kunden? Aber Sie bieten Ihre Dienste doch umsonst an. Und knöpfen nur senilen alten Trotteln wie mir Geld ab. Was spielt es da für eine Rolle, wie viele Kunden Sie haben?«
Tante Bpoo legte sich den Handrücken auf die Stirn und blickte in den brodelnden Himmel. Eine beliebte thailändische Schauspielerin hatte diese Geste berühmt gemacht. Eine ganze Skala von Gefühlen huschte über das Gesicht der Wahrsagerin.
»Stimmt«, sagte sie mit sanfter Frauenstimme. »Eigentlich brauche ich kein Geld. Ich habe alles, was ich will. Aber Freundschaft und Respekt kann man sich nicht erkaufen, nicht um alles Geld der Welt. Warum also sollten sich die Leute anhören, was jemand wie meine Wenigkeit zu sagen hat? Ich brauche eine Masche.«
»Es ist weitaus mehr als eine Masche.«
»Nein. Es ist nichts weiter als ein billiger Trick.«
»Unsinn. Sie wissen unglaubliche Dinge. Sie wussten, wie ich heiße.«
»Die Stadt ist klein.«
»Nein. Sie konnten mir Dinge sagen, von denen sonst niemand etwas weiß. Darum bin ich hier. Ich bin sicher, dass Sie mit der Geisterwelt in Verbindung stehen.«
»Ehrlich, ich finde es prima, dass Sie einen Draht zu den Toten haben.« Er war zur Bassstimme zurückgekehrt. »Das heißt, wenn Sie dereinst den Löffel abgeben, stehen Sie da oben nicht auf verlorenem Posten. Sehr praktisch, so was, vor allem in den ersten Tagen, wenn man sich orientieren, eine anständige Unterkunft und ein gutes Restaurant finden muss. Aber erwarten Sie bloß nicht, dass ich sage: ›Sie auch? Ist ja irre! Da haben wir uns ja ’ne Menge zu erzählen.‹ Ich habe keinerlei Verbindungen zur Geisterwelt. Kapiert? Ich raube einem alten Knacker wie Ihnen, der mit Sicherheit die eine oder andere Enttäuschung hinter sich hat, ja nur ungern seine Illusionen. Aber ich würde einen Geist nicht mal erkennen, wenn er mir in die Titten beißen würde. Es gibt nichts Übersinnliches. Ich erhalte keine Botschaften. Ich rate einfach. Klar? Ich sage einfach, was mir gerade durch die Rübe rauscht. Meistens habe ich keinen Schimmer, was ich rede. Aber da die Leute immer wiederkommen, tue ich ihnen den Gefallen. Es ist bloß ein Spaß. Niemand gibt etwas darauf. Kriege ich meinen Hocker jetzt zurück?«
Siri stand auf und opferte seinen Sitzplatz. Tante Bpoo stapelte die beiden kleinen weißen Hocker übereinander und verstaute sie in einem schwarzen Plastikmüllsack. Sie warf sich ihre riesige lila Handtasche über die Schulter und las ihr restliches Gepäck zusammen. Siri stand triefend vor ihr.
»Wissen Sie, warum ich nur von Ihnen und sonst niemandem Geld genommen habe?«, fragte sie. »Weil ich nicht wollte, dass Sie wiederkommen. Sie sind mir irgendwie unheimlich, alter Mann. Ich kriege jedesmal so ein komisches Gefühl in der Blase, wenn ich Sie sehe. Das bringt’s nicht. Was ich hier mache, ist nur ein harmloser Zeitvertreib, aber Leute wie Sie können einem den Spaß gründlich verderben. Entspann dich, Opa.«
Sie machte kehrt und ging auf die schwarze Stupa zu.
»Warten Sie«, rief Siri ihr hinterher.
Der Transvestit fuhr wütend herum. »Was?«
»Sie schulden mir noch eine Weissagung.«
Tante Bpoo watschelte auf ihren Plateausandalen zu ihm zurück.
»Nach allem, was ich Ihnen gesagt habe, soll ich für Sie in die Zukunft sehen?«
»Nur noch dieses eine Mal, dann lasse ich Sie endgültig in Ruhe. Ich schwör’s.«
»Ach ja?«
»Großes Pathologenehrenwort.«
»Aber Sie wissen doch, dass ich bloß den erstbesten Blödsinn von mir gebe, der mir in den Kopf kommt.«
»Mir soll’s recht sein.«
24
JA ODER NEIN?
An diesem Abend wirkte der Mekong wie erstarrt. Natürlich bewegte er sich. Schließlich hatte er flussabwärts tausend Städte und Dörfer zu versorgen, Reis zu wässern, schöne Frauen zu umspülen. Doch für das bloße Auge sah er aus wie ein endlos langer, breiter Teich. Die Regenfälle in China ließen ihn langsam, aber sicher anschwellen, und schon überschwemmte er die ersten Gemüseparzellen an seinen Ufern. Während die Schatten immer länger wurden, saß Siri allein auf seinem Baumstamm und stellte sich vor, der mächtige Strom würde stillstehen. Er, Siri, wüsste um all seine Geheimnisse, und der Fluss würde sich vor ihm niederwerfen und ihn um
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