Brudermord
Als die Spitze endlich zu glühen begann, hatte Clara bereits eine halbe Schachtel Zündhölzer aufgebraucht. Ein, zwei heftige Züge, und das Glühen wurde stärker. Sie sollte froh sein. Es war besser gelaufen als erwartet. Viel besser sogar. Und sie hatte recht behalten. Das sollte sie zufrieden machen.
Aber hatte sie tatsächlich recht behalten? Aus irgendeinem Grund war sie sich plötzlich nicht mehr sicher. Irgendetwas an Pablos Verhalten, irgendeine Kleinigkeit, die sie nicht benennen konnte, hatte sie stutzig werden lassen. Unbemerkt hatte sich ein Zweifel eingeschlichen, der sich nicht mehr so leicht vertreiben ließ.
Sie drehte die Zigarette langsam zwischen den Fingern. Ein Windstoß riss die Glut herunter, und die Zigarette verlosch. Clara drückte sie in den kalten Sand und stand auf. Sie pfiff mehrmals nach Elise, doch der Wind war zu stark. Kein Ton war zu hören. Fluchend klappte sie den Mantelkragen hoch und stapfte den Strand entlang. In der Ferne entdeckte sie Elises Gestalt. Sie stand mit gesträubtem Fell breitbeinig im Sand und bellte wütend auf etwas ein. Clara lief erschrocken auf sie zu. Was konnte es nur sein, das sie so aufregte? Sie strengte ihre Augen an, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Lag dort nicht etwas im Sand?
Doch es war nichts. Nichts außer dem dunklen, aufgewühlten Wasser, das schäumend an den Strand schwappte und Elise wütend machte. Gespenster, dachte Clara. Elise sieht Gespenster. Genau wie ich.
Als sie am nächsten Morgen hinunter zum Hafen fuhr, war es halb acht. Clara parkte neben Miguels Bar, die noch geschlossen war, und holte eine Brioche aus dem Lunchpaket, das ihr die fürsorgliche Wirtin eingepackt hatte. Ob er wohl kam?, dachte sie kauend und fütterte Elise, die neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, mit kleinen Stückchen des Gebäcks, die in Elises Schlund verschwanden, ohne dass sie auch nur eine Kaubewegung machen musste.
Er kam. Um zehn vor acht kam er die Seitengasse links von Miguels Bar herunter, einen alten Rucksack über die Schulter gehängt. Clara stopfte sich den Rest der Brioche in den Mund und richtete sich auf. Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hatte.
Die halbe Nacht war sie wach gelegen, hatte dem immer stärker werdenden Wind gelauscht und überlegt. Versucht, die Wahrheit zu ergründen. Nur um dann irgendwann erschöpft festzustellen, dass Denken oft nicht das richtige Mittel war, um der Wahrheit auch nur nahe zu kommen, um einen Zipfel davon zu fassen zu bekommen. Im Gegenteil. Je mehr sie sich anstrengte, desto mehr schien ihr alles zu entgleiten, desto schneller löste sich auf, was sie vor ein paar Stunden noch als Gewissheit empfunden hatte. Sie hatte sich unruhig im Bett hin und her gewälzt und sich bemüht, endlich einzuschlafen. Doch ihre Gedanken hielten sie wach. Und der Wind, der immer heftiger wurde. Er rüttelte an den Läden und pfiff durch die Ritzen der dünnen Fensterscheiben.
Irgendwann hatte sie kapituliert, war wieder aufgestanden und hatte sich ans offene Fenster gesetzt und eine Zigarette geraucht. Und während sie dem wilden Rauschen des Meeres und dem wütenden Wind lauschte, hatte sie versucht, dem einen Gedanken auszuweichen, der sie seit Pablos Geständnis verfolgte: Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein.
Clara beobachtete, wie Pablo langsam auf sie zukam. Er trug ein anderes Hemd als an den letzten beiden Tagen. Es war neu oder wenigstens gebügelt. Zumindest sah es aus der Ferne so aus.
Seine ganze Erscheinung schien etwas gepflegter, seine Haare waren feucht und aus der Stirn gekämmt, und sein Bart … was hatte er mit seinem Bart gemacht? Clara runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Er war gestutzt. Ordentlich geschnitten. Pablo hatte sich für die Reise richtig ins Zeug gelegt.
Fast fröhlich kam er auf sie zu. »Guten Morgen.«
Clara sah ihn prüfend an. »Guten Morgen, Herr Schelling«, sagte sie ruhig und stieg aus. Sie bedeutete Elise, in den Laderaum des Landrovers zu klettern. Elise gehorchte nur zögernd, mit beleidigtem Gesichtsausdruck und betont langsamen Bewegungen.
Clara hob gerade Pablos Gepäck auf den Rücksitz, da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen: seine Erleichterung, sein befreiter Blick. Natürlich: eine Möglichkeit, Buße zu tun. Seine letzte Möglichkeit. Sie hielt abrupt inne und starrte einen Augenblick wie blind ins Leere. Dann zog sie den Rucksack wieder heraus.
»Ich nehme Sie nicht
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