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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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wenig ungewöhnlich. Und wer war er schon, entscheiden zu können, was für jemanden wichtig war und was nicht? Deshalb hatte er nach einer kurzen Bedenkzeit gemeint, er würde sehen, was sich machen ließe.
    Und so war es gekommen, dass Clara jetzt mit Mick als Begleitschutz vor dem Eingangstor der ehemaligen psychiatrischen Klinik Schloss Hoheneck stand und von einem Beamten, den Gruber hierzu verdonnert hatte, eingelassen wurde. Mit klappernden Absätzen, noch immer am Arm von Mick, folgte sie dem jungen Polizisten beklommen durch die verlassenen Gänge und warf scheue Blicke in die Räume, deren Türen offenstanden. Teilweise waren die Möbel entfernt worden, die Zimmer waren leer und verstaubt, teilweise stand alles noch an seinem Platz, so als würde jeden Moment eine Schwester um die Ecke kommen und sie fragen, was um Himmels willen sie denn hier suchten.
    Sie gingen eine Treppe hinauf, dann eine zweite, immer weiter, zum Turm, wie Gruber ihr den Weg beschrieben hatte. Oben an der letzten Tür blieben sie stehen. »Danke«, sagte Clara zu dem jungen Beamten, der gleichgültig nickte und meinte, er sei dann unten, beim Ausgang. Wenn sie nicht zurückfänden, sollten sie einfach rufen. Clara bejahte. In Ordnung. Verstanden. Aber sie würden schon zurückfinden. Ganz sicher. Dann war er weg. Seine Schritte verloren sich auf den Stufen, und zurück blieben Mick und Clara vor der Tür zur weißen Kammer.
    Clara drückte auf den Lichtschalter, der außen neben dem Türrahmen angebracht war.
    »Ich weiß nicht, ob du da reingehen solltest«, sagte Mick plötzlich unbehaglich. »Wir gehen einfach wieder, o.k.?«
    Clara schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie öffnete die Tür.
    »Ich bin da!«, hörte sie Mick noch rufen. »Wenn du in fünf Minuten nicht wieder rauskommst, hole ich dich!«
     
    Gleißendes Licht empfing sie, und sie schloss geblendet für einen Moment die Augen. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, und das Geräusch drang ihr bis in Mark. Fast augenblicklich fühlte sie, wie sich ihr Brustkorb zu verengen begann, und sie zwang sich, tief zu atmen und die Augen zu öffnen.
    Weiß.
    Sie sah nichts als Weiß um sie herum. Clara blinzelte, strengte ihre Augen an, um Konturen zu erkennen, doch es gelang ihr nicht. Noch immer geblendet durch das Licht, tastete sie sich vorwärts, und ihre Hände berührten die Wand. Eine Grenze, ein Halt. Sie presste beide Hände gegen die mit Schallschutz verkleidete Mauer und spürte, wie ihr Atem schneller wurde. Mehr noch als das unerträglich helle Licht, das von nirgendwoher zu kommen schien und alles in dieses konturlose Weiß tauchte, verstörte sie die absolute Stille. Sie konnte nicht hören, wie ihre Hände an der Wand entlangtasteten, sie hörte ihre eigenen Schritte nicht, es war, als ob sie gar nicht vorhanden wäre. Es gab keinen Raum, keine Begrenzung, keine Clara, nur dieses Licht.
    Und dann plötzlich ein dumpfes Klopfen, von dem sie nicht wusste, woher es kam. Sie drehte den Kopf, ohne die Wand loszulassen, noch immer fast blind. Woher kam das Klopfen und das Rauschen, das plötzlich in ihren Ohren dröhnte? Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es ihr eigener Herzschlag war, den sie hörte, und das Blut, das in ihren Ohren rauschte. Panik erfasste sie. Es hörte nicht auf, die Geräusche hörten nicht auf, sie dröhnten in ihrem Kopf, als wollten sie ihn zerreißen, es gab nichts anderes mehr als dieses Klopfen, dieses Rauschen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch kein Laut kam heraus.
    Da, kurz vor dem Moment, in dem die Panik ganz von ihr Besitz ergriff, fiel ihr ein, weshalb sie gekommen war. Und unvermittelt begann Clara die Worte zu flüstern, die sie seitdem aus dem kleinen Büchlein, das ihr von Ruths Sachen geblieben war, auswendig gelernt hatte.
    Die Kammer verschluckte die Töne, sobald Clara den Mund aufmachte. Es war, als würde sie in ein dickes weiches Kissen sprechen. Aber das war egal. Sie konnte die Worte trotzdem hören, in ihrem Kopf:
    Die Gefangnen im Turm
halten den Wärter gefangen
und üben mit ihm
das Einmaleins der Stunden
     
     
    Ins Wandgewebe
sind Labyrinthe gestickt
Irrgänge führen zum
Sesam-öffne-dich
     
     
    Nachts holen die
Gefangnen verstohlen
die Welt in den Turm
verteilen sie gleichmäßig
untereinander
     
    Am Morgen ist alles
spurlos weggeräumt
die Zellen sind wieder
finstre Rechtecke
ohne Vögel und Wasserfälle
     
     
    Die Gefangnen begrüßen sich
verstohlen
mit Weltabglanz

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