Brudermord
anderes bedeuten, als dass … Clara schluckte.
»Er ist es gewesen«, sagte sie. Jakob Schelling hob den Kopf und sah sie an. Clara fuhr langsam fort: »Nicht Sie haben Udo Reimers getötet und auch Ruth nicht. Johannes Imhofen war es.«
Sie sah plötzlich so deutlich vor sich, was sich damals abgespielt hatte, als wäre sie dabei gewesen: »Johannes Imhofen fährt nach Ihrem Anruf zu Ruths Wohnung. Er macht sich Sorgen, gleichzeitig ist er wütend, es ist mitten in der Nacht, und seine Schwester schafft ihm ständig Probleme. Doch er fühlt sich für sie verantwortlich, seit sie ihre Eltern verloren haben. Immer noch. Diese Verantwortung ist ihm eine schier unerträgliche Last, aber sie lässt sich nicht abschütteln. Und Ruth dankt sie ihm auch in keiner Weise. Im Gegenteil. Vermutlich verspotten sie und ihre Freunde ihn als Dumpfbacke, als karrieregeilen Spießer, einen Typ Mensch, für den man in ihren Kreisen nur Verachtung übrig hat.
Als er ankommt, hat sich Ruth noch immer im Bad verschanzt. Betrunken, gereizt, unglücklich über ihren Streit. Ihr ist übel, sie übergibt sich, weint. Johannes versucht, mit ihr zu reden, schlägt gegen die Tür. Doch Ruth reagiert nicht, oder sie beschimpft ihn womöglich sogar: Hau ab. Lass mich in Ruhe.
Da mischt sich Udo Reimers ein. Er meint, Imhofen solle sich raushalten, das ginge ihn nichts an. Udo Reimers konnte unangenehm werden. Er stichelt, macht sich über Imhofen lustig, lässt nicht locker.
Jetzt packt Johannes Imhofen die blanke Wut, und er greift nach dem erstbesten Gegenstand, den er zu packen bekommt, die Statue auf der Kommode neben der Badezimmertür, und schlägt Udo Reimers zu Boden. Dann erfasst ihn Panik, er rüttelt an Ruths Tür, will, dass sie aufmacht, doch sie reagiert nicht, und er tritt die Tür ein und zerrt sie heraus. Er weiß nicht, was er tun soll. In dem Moment kommen Sie zurück und sehen ihn dort stehen.«
Sie warf Jakob Schelling einen Blick zu. Er saß völlig bewegungslos da, und seine blutunterlaufenen, matten Augen starrten abwesend in die Ferne. Langsam nickte er, wie in Trance.
»Er hat gar keinen Krankenwagen gerufen«, fuhr Clara fort. »Er hat Udo Reimers einfach auf dem Flur dort sterben lassen, und dann seiner Schwester eingeredet, sie wäre es gewesen.«
Ruths Flehen, als sie in Pablos Werkstatt neben ihr am Boden gekauert hatte, stand Clara in grausiger Deutlichkeit wieder vor Augen: Er stirbt, bitte tu doch etwas … Sie spürte, wie sich an ihren Unterarmen vor Entsetzen die Haare aufstellten und es in ihrem Nacken kribbelte. Es war so einfach gewesen. Und so böse.
Und es wäre absolut perfekt gewesen, wenn nicht Jakob Schelling zurückgekommen wäre. Er war der Einzige, der Johannes Imhofen gefährlich werden konnte. Dabei war der sich in dem Augenblick gar nicht bewusst, was er gesehen hatte. Und nachdem er am nächsten Morgen abreiste und Johannes Imhofen dafür gesorgt hatte, dass sein Name gar nicht erst in den Akten auftauchte, wurde er auch nie mit dessen falscher Aussage konfrontiert. Und später hatte Imhofen ihn dann mit seiner großzügigen Unterstützung eingewickelt und ruhiggestellt, seine feige Sorge um die Karriere und seine Schuldgefühle deswegen ausgenutzt.
Gleichzeitig hat er dafür gesorgt, dass seine Schwester in der Klinik verschwand. So konnte sie ihm nicht mehr gefährlich werden, selbst wenn sie sich doch noch an Details erinnern sollte, denn wer würde ihr schon glauben? Außerdem war er sie los, hatte sich endgültig dieser verhassten Verantwortung entledigt. Sie kam ihm nicht mehr in die Quere mit ihren störenden Auftritten, mit ihrer extravaganten Art, mit ihren Exzessen und Peinlichkeiten. Und mit jedem Jahr, mit dem Ruth weggesperrt war, wurde seine Sicherheit größer.
Clara hob den Kopf und sah Pablo an. Seine Hände zitterten. Die Zigarette, die sie ihm gegeben hatte, verglühte im Aschenbecher. Er hatte sie dort vergessen.
Sie nickte bedächtig. Alles ergab jetzt einen Sinn. Einen traurigen, schrecklichen Sinn.
Langsam sagte sie: »Als Ruth zu Ihnen gekommen ist und Ihnen erzählt hat, was mit ihr geschehen ist, da haben Sie erst begriffen, was für ein böses Spiel Johannes Imhofen mit Ihnen beiden gespielt hat. Und dass er damit Ihrer beider Leben zerstört hat.«
Pablo starrte auf seine Hände und nickte ebenfalls. »Da haben wir plötzlich alles verstanden«, sagte er leise, wie zu sich selbst.
»Und dann?«, fragte Clara.
»Es war ein Schock. Keiner von uns hat
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