Bruderschaft der Unsterblichen
studierte. Es war eine altertümliche Ausgabe über linguistische Analyse, Sommerfelts Diachrone und synchrone Aspekte der Sprache. Der Titel hätte Vater Steinfeld normalerweise nichts gesagt, hätte er nicht unlängst 16,50 Dollar herausgerückt, keine unbedeutende Summe für Familie Steinfeld, um das gleiche Buch für Eli zu kaufen, der glaubte, ohne das Buch nicht mehr leben zu können. Dann der Schock des Wiedererkennens, als er das schwere Buch sah. Der elterliche Stolz wallte auf: Mein Sohn ist Philologe. Man stellte sich gegenseitig vor. Konversation. Übergangslos eine freundschaftliche Beziehung; ein älterer Auswanderer hat von einem anderen in einem Automatenrestaurant nichts zu befürchten. „Mein Sohn“, sagte Mr. Steinfeld, „liest das gleiche Buch!“ Ausdruck der Freude. Der andere stammt aus Rumänien und war früher Professor für Linguistik an der Universität von Cluj; 1939 war er geflohen und hoffte, nach Palästina zu gelangen. Aber statt dessen gelangte er auf mehreren Umwegen über die Dominikanische Republik, Mexiko und Kanada in die Vereinigten Staaten. Hier kann er an keiner Hochschule eine Stelle bekommen und lebt in ziemlicher Armut in der Manhattan Upper West Side. Er nimmt jeden Job an, den er finden kann: Tellerwäscher in einem chinesischen Restaurant, Korrektor einer kurzlebigen rumänischen Zeitung, er bediente einen Vervielfältigungsapparat in einer Vermißtenstelle und so weiter. Und währenddessen hat er immer fleißig an seinem Lebenswerk gearbeitet, einer strukturellen und philosophischen Analyse des Zerfalls des Lateins im Frühmittelalter. Das Manuskript steht jetzt, im Moment allerdings gänzlich in Rumänisch geschrieben, erklärte er Elis Vater, aber er hat schon mit der unvermeidlichen Übersetzung ins Englische begonnen. Doch diese Arbeit kommt nur langsam voran, denn er ist des Englischen nicht besonders mächtig, und in seinem Kopf wimmelt es von allen möglichen Sprachen. Er träumt davon, das Werk zu vollenden, einen Verleger zu finden und sich vom Honorar in Israel zur Ruhe zu setzen. „Ich würde Ihren Jungen gerne kennenlernen“, sagte der Rumäne unvermittelt. Sofort steigt Argwohn in Elis Vater hoch. Ist dieser Mann ein Perverser? Einer, der Kinder streichelt und belästigt? Nein! Das ist ein ehrenwerter Jude, ein Wissenschaftler, ein Melamed, ein Mitglied der internationalen Kameradschaftsvereinigung der Opfer; wie könnte so einer Eli etwas Böses wollen? Eli geht zur Wohnung des Rumänen: nur ein kleines Zimmer, vollgestopft mit Büchern, Manuskripten, wissenschaftlichen Fachzeitschriften in einem Dutzend verschiedener Sprachen. Hier, lies das, sagte der würdige Mann, und dies und das und jenes, meine Essays, meine Theorien; und er stapelt Papierstöße auf Elis Hände: hauchdünne Blätter, eng betippt, ohne Absätze, ohne Seitenrand. Eli geht wieder nach Hause, liest, und sein Verstand droht gesprengt zu werden. Lieber Himmel, dieser kleine alte Mann hat da etwas ganz Wahnsinniges produziert! Begeistert entschließt sich Eli dazu, Rumänisch zu lernen, um für seinen neuen Freund den Sekretär zu machen, um ihm zu helfen, sein Meisterwerk so rasch wie möglich zu übersetzen. Eifrig planen die beiden, der Junge und der alte Mann, eine Zusammenarbeit. Sie errichten Traumschlösser. Eli fotokopiert aus eigener Tasche die Manuskripte, damit nicht irgendein Goy in der Nachbarwohnung dadurch, daß er mit einer brennenden Zigarette einschläft, gedankenlos einen Brand legt und damit ein Lebenswerk voller wissenschaftlicher Arbeit vernichtet. Jeden Tag eilt Eli nach der Schule in das kleine, überfüllte Zimmer. Dann, eines Nachmittags, öffnet niemand auf sein Klopfen. Wie furchtbar! Der Hauswirt wird herbeigerufen, er brummt, stinkt nach Alkohol; mit seinem Passepartout öffnet er die Tür; drinnen liegt der Rumäne mit gelbem Gesicht und steifem Körper. Eine Flüchtlingsgesellschaft bezahlt die Beerdigung. Ein Neffe, der seltsamerweise früher nie erwähnt wurde, erscheint und schleppt jedes Buch und jedes Manuskript in ein ungewisses Schicksal ab. Eli bleibt mit den Fotokopien zurück. Was nun? Wie kann er das Vehikel sein, über welches dieses Werk der Menschheit zugänglich gemacht wird? Ah, ja, der ‚Jugend forscht’-Wettbewerb um ein Stipendium. Wie besessen sitzt Eli an seiner Schreibmaschine, Stunde um Stunde. Der Unterschied zwischen ihm und seinem vergangenen Bekannten verwischt sich in Elis Kopf. Jetzt arbeiten sie wirklich zusammen; durch
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