Bruderschaft der Unsterblichen
Was ist das für ein Leben? Ich war elf, als er starb. Ich hatte einen Hund, der Hund starb. Die Schnauze wurde grau, die Ohren wurden schlaff, der Schwanz baumelte herunter, auf Wiedersehen. Ich hatte auch einmal Großeltern, genau wie du vier Personen. Sie starben: eins, zwei, drei, vier, die lederartigen Gesichter, die Grabsteine im Staub. Warum? Warum? Warum? Ich will noch soviel sehen, LuAnn! Afrika, Asien und den Südpol, den Mars und die Planeten draußen beim Alpha Centauri! Ich will den Sonnenaufgang am ersten Tag des einundzwanzigsten Jahrhunderts sehen und den vom zweiundzwanzigsten Jahrhundert auch. Bin ich gierig? Ja, ich bin gierig. Ich habe jetzt alles vor mir. Jetzt und alles. Planmäßig soll ich alles wieder verlieren. Genau wie jeder andere, aber ich weigere mich, mich dann zu unterwerfen. So fahre ich nach Westen, mit der Morgensonne im Rücken, und Timothy schnarcht neben mir, und Ned schreibt auf dem Rücksitz Gedichte, und Eli brütet über dem Mädchen, das Timothy ihm nicht zugestehen wollte. Und ich, ich denke diese Dinge alle dir zu, diese Dinge, die ich nicht erklären kann. Oliver Marshalls Meditation über den Tod. Bald werden wir in Arizona sein. Dann kommt die Enttäuschung und die Desillusionierung. Wir werden ein paar Bierchen trinken und uns gegenseitig erzählen, daß die ganze Sache offensichtlich ein Scherz war. Dann werden wir wieder nach Osten fahren und uns dem Prozeß des Todes ergeben. Aber vielleicht auch nicht, LuAnn, vielleicht nicht. Eine Chance existiert. Eine klitzekleine Chance, daß Elis Buch recht hat.
Diese Chance existiert.
9. KAPITEL
Ned
Heute sind wir bereits vier- oder fünfhundert Meilen gefahren. Seit dem frühen Morgen ist kaum ein Wort gefallen. Spannungen herrschen zwischen uns, setzen Abstände zwischen uns. Eli ist sauer auf Timothy; ich selbst bin auch sauer auf Timothy. Timothy ist über Eli und mich verstimmt. Oliver gehen wir alle auf die Nerven. Eli ist sauer auf Timothy, weil er verhindert hat, daß Eli das kleine dunkelhaarige Mädchen mitnehmen durfte, das er letzte Nacht aufgelesen hat. Meine Sympathie gehört Eli. Ich weiß, wie schwer es ihm fällt, ein nettes Mädchen zu finden, und welche Qual es für ihn gewesen sein muß, sich von ihr zu trennen. Auf der anderen Seite halte Timothy natürlich recht: undenkbar, das Mädchen mitzunehmen. Ich habe meine eigenen Gründe, Timothy zu zürnen, weil er sich in mein Sexualleben letzte Nacht in der Single-Bar eingemischt hat. Er hätte mich doch genausogut mit dem Knaben zu seiner Bude gehen lassen und mich am Morgen wieder auflesen können. Aber nein, Timothy befürchtete, man würde mich in der Stadt totschlagen – du weißt doch, wie es ist, Ned, früher oder später schlagen sie jeden Schwulen tot –, und deshalb wollte er mich nicht aus den Augen verlieren. Was geht es ihn an, wenn ich zu Tode geprügelt werde, wenn ich meinen schmutzigen Vergnügungen nachgehe? Die Mandala würde auseinanderbrechen, das ist der Grund. Der viereckige Rahmen, der heilige Diamant. Drei konnten sich den Hütern der Schädel nicht präsentieren. Ich bin der notwendige Vierte. Somit ist Timothy, der sehr zum Ausdruck bringt, daß er nicht die Bohne an den Schädelhaus-Mythos glaubt, trotzdem zu dem Hirten geworden, der unerbittlich die Gruppe intakt zum Altar führt. Mir gefällt seine Attitüde, sie hat die ausgewogenen, gegensätzlichen Resonanzen, den angemessenen Kreis aufeinanderprasselnder Absurditäten. Ich bin nicht mit dem Herzen dabei, sagt Timothy, aber ich werde bis zum Ende mitmachen, und verdammt noch mal, ihr Burschen werdet ebenfalls bis zum Ende durchhalten.
Es gibt noch andere Spannungen an diesem Morgen. Timothy ist mürrisch und in sich gekehrt. Ich nehme an, weil ihm die patriarchalische, schulmeisterliche Rolle nicht paßt, die er letzte Nacht spielen mußte, und er nimmt es uns übel, daß wir ihn dazu gezwungen haben. (Er ist sicher davon überzeugt, daß wir ihn aus einer Laune heraus dazu gebracht haben.) Außerdem glaube ich, daß er sich unterschwellig über mich ärgert, weil ich meine Gunst der traurigen, viehischen Mary geschenkt habe; homosexuell ist homosexuell, heißt es in Timothys Glaubensbekenntnis, und er glaubt, vielleicht gar nicht zu Unrecht, daß ich die Heteros nur verhöhnen will, wenn ich mit einem häßlichen Mädchen herummache.
Und Oliver ist noch schweigsamer als gewöhnlich. Vermutlich hält er uns für frivol und verabscheut uns deswegen. Armer,
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