Brüder und Schwestern
sich nicht zu halten, sie drohte, vornüber in die Grube zu stürzen. Willy und Erik umfaßten sie von hinten und zerrten sie zurück. Aber Ruth drängte wie von Sinnen erneut nach vorn, wand sich in den Armen der beiden, warf ihren Kopf hin und her und mit ihm ihren Schleier, der etwas verzögert, und fließender, ihren wilden, ruckartigen Bewegungen folgte. Dabei schrie sie, »laßt mich, laßt mich«, erst laut, dann immer leiser werdend. Schließlich verfiel sie in ein nur für die Umstehenden hörbares Wimmern, eine Art Bibbern, wie man es von frierenden Kindern kennt. Und das verebbte auch nicht, als die anderen Trauernden, die ans Grab Tretenden, ihre Blumen oder ihre Erdkrumen hinabfallen ließen, ein jeder auf seine Art. Erik so gewissenhaft, daß seine Lilie gar nicht anders konnte, als genau auf der Mitte des Sarges, über dem Fernrohr, zum Liegen zu kommen. Matti mit weit ausholender, weicher Geste, dank der seine Erde, er fand, in der Erde stecke viel mehr Bedeutung als in irgendwelchen Schnittblumen, auf der gesamten Länge des Sarges herabrieselte. Britta mit schnellem, abruptem Armausstrecken, so daß ihr die Lilie entglitt und in hohem Bogen an die gegenüberliegende Grubenwand prallte, von wo sie auf die Abschrägung des Sargdeckels fiel, und von da, leise schleifend, auf den schwarzen Erdboden. Marieluise Wehle verbeugte sich respektvoll und nicht ohne Eleganz. Clara Felgentreu am Arm ihres Sohnes wandte ihr Gesicht fragend zu diesem und rieb nach seinem zustimmenden Brummen die Erde, die er ihr zuvor in die ausgestreckte Hand gelegt hatte, ohne jede aufgesetzte Geste zwischen den Fingern. Herbert Rabe warf seine dunkelblaue Chrysantheme hart wie einen Stein, den es im Sand zu versenken gilt, nach unten, so daß von dort ein peitschendes Geräusch ertönte. Heiner Jagielka schließlich schnippte seine weiße Rose, wo hatte er die überhaupt her in dieser Jahreszeit, diese herrliche Rose, wie einen Jeton beim Roulette von sich. Ruth aber, das sah man jetzt, Ruth hielt ihre Blume noch immer in den Fäusten. Sie stand da wie abwesend, als gehörte sie nicht zu der Versammlung. Niemand hatte gewagt, ihr die Hand zu drücken. Willy packte sie mit sanfter Konsequenz am Ellbogen und führte sie, als wäre er Achim, und sie wäre Clara, noch einmal zum Grab. Dort löste er ihre Finger von der Blume. Ruth ließ es geschehen. Als er sie weglotste, starrte sie ihn an, wie wenn er sie mitten in der Nacht aus tiefstem Schlaf gerissen hätte.
*
Willy lud alle noch zum Leichenschmaus ein. Wanderfreunde und alte Nachbarn schüttelten erschrocken die Köpfe und verabschiedeten sich schnell; vermutlich waren sie von Ruth und deren Veitstanz verprellt worden. Die anderen, nicht minder verstört, machten sich stumm auf den schottrigen Weg zur »Sonne« hinunter. Dort hatte Willy im Seitengewölbe des großen Saals einen langen Tisch bestellt.
Er nahm an der vorderen Stirnseite Platz und rückte Ruth den Stuhl zu seiner Linken zurecht. Neben Ruth, an der Längsseite, saß Britta, und neben der hatte sich verdächtig schnell Jonas eingefunden, dann kamen Clara und Achim. Rechts von Willy reihten sich Erik, Matti, Catherine und Marieluise auf. Aber das waren noch nicht alle. Als man nämlich gerade Platz genommen hatte und die gelangweilt am Gewölbeeingang lehnende Kellnerin, eine vielleicht 40jährige mit Dauerwelle und ledernen Handgelenkbandagen, sich schwerfällig vom Mauerwerk abstieß, um sich in Richtung Tisch zu bewegen, erschien zur Überraschung der Versammelten das ungleiche Paar Jagielka und Rabe. Schon standen die beiden neben Marieluise, schon zogen sie wie selbstverständlich die Stühle zurück. Aus der einen Stille, die eben noch im Raum geherrscht hatte, wurde schlagartig eine andere: Nicht mehr ein Kraftschöpfen war das jetzt, sondern ein Abweisen: Hatten denn diese Eindringlinge gar kein Taktgefühl? Kannten sie nicht den Unterschied zwischen einer tatsächlichen und einer symbolischen Einladung? Vor allem Rabes Erscheinen irritierte Willy. Warum ließ er sie nicht in Ruhe? Wollte dieser Mensch, da ihm Rudi abhanden gekommen war, nun die ganze Werchowsche Sippe demütigen? Jagielka wiederum, der allen hier mehr oder minder fremde Gärtner, erschien Willy einfach nur aufdringlich.
Heiner Jagielka blickte zu ihm hin, spöttisch, wie Willy meinte, aber vielleicht täuschte er sich.
Ruth stierte auf ihren blanken Teller, schabte mit der stumpfen Seite ihres Messers auf der Tischdecke herum.
Clara
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