Wer hat Angst vorm bösen Mann?
[zur Inhaltsübersicht]
Vorwort
Marietta bringt Gottfried Kuchen, Wollsocken, eine CD von den Amigos und ein Buch über Heilfasten mit. Gottfried lächelt Marietta liebevoll an. In der nächsten Stunde reden sie viel. Genauer gesagt, klagt Gottfried die meiste Zeit, wie schlecht es ihm geht, und Marietta hört ihm zu. Dann sprechen sie darüber, wann sie sich das nächste Mal wiedersehen. Das wird erst in einem Monat sein. Denn Gottfried sitzt im Gefängnis.
Marietta hat keine Angst vor Gottfried. Dabei gab es mal eine Zeit, in der Gottfried schlimme Dinge gemacht hatte.
Er hat eine Frau getötet, mit der er mehrere Wochen zusammen war. Renate war zehn Jahre älter als er. Heute kann er sich nicht mehr erklären, warum er so wütend auf Renate werden konnte, dass er angeblich vierzehnmal mit dem Messer auf sie einstach, wie der Gerichtsmediziner behauptet hatte. Auch schon früher war Gottfried wegen Vergewaltigung und Körperverletzung im Gefängnis gewesen. Aber Marietta ist sich sicher, dass so etwas nie wieder passieren wird. Denn sie wird ihm Halt geben. Menschen können sich ändern.
Wie ist es möglich, dass ein Mensch, der abgrundtief böse und verachtenswert erscheint, von einer Frau wie Marietta aufopfernd geliebt wird? Immer wieder kann man beobachten, dass kriminelle, eigensüchtige und brutale Personen andere wohlmeinende Menschen täuschen, ausnutzen und in ihren Bann ziehen.
Eine Religionslehrerin setzt sich für einen mehrfachen Frauenmörder in der Todeszelle ein und glaubt an seine Unschuld. Eine Frau kann es nicht über das Herz bringen, sich von ihrem Ehemann zu trennen, obwohl er ständig fremdgeht, nicht arbeitet, das Haushaltsgeld verspielt und sie einmal im Monat verprügelt. Ein Politiker, der sich in mitreißenden Reden für christliche Werte, Ehrlichkeit und Fleiß einsetzt und gegen den Sittenverfall wettert, der aber auf der anderen Seite mit der Mafia kooperiert, Kokain schnupft, Steuern hinterzieht und seine Frau betrügt, wird immer wieder vom Volk gewählt. Ein windiger Hochstapler umgarnt Damen mittleren Alters und erschleicht sich ihr Vertrauen, um ihre wohlgefüllten Konten zu plündern. Ein Guru predigt Enthaltsamkeit, Askese, Treue, Frieden und Respekt – aber er schläft mit seinen jugendlichen Anhängerinnen, lässt sich Luxuslimousinen von seinen Fans finanzieren, liebt französischen Cognac und Black Jack im Casino und bezahlt eine kriminelle Schlägertruppe, die Abtrünnige am Aussteigen aus seiner Sekte hindern soll.
Immer wieder hören wir von Fällen, in denen gefährliche und infame Menschen andere dazu bringen, sie zu bewundern, zu verehren, ihnen zu dienen und Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen.
Oft reagieren wir mit Fassungslosigkeit, wenn wir erfahren, wie sich Menschen gegen alle Vernunft solchen offensichtlich niederträchtigen Egoisten ausliefern. Ist es Naivität, Willenlosigkeit oder psychische Labilität, die manche Personen anfällig für gefährliche Verführer macht?
Ist es Manipulation, Hypnose oder Gehirnwäsche, wenn intelligente, lebenserfahrene und ausgeglichene Menschen von Übeltätern getäuscht werden?
Und wie ist es zu erklären, wenn sich ganze Völker von gewissenlosen Diktatoren irreleiten, erniedrigen und unterjochen lassen? Nicht selten bekommen politische oder religiöse Führer, die es mit den Menschen nicht wirklich gut meinen, von uns die große Bühne geschenkt.
All diesen geschickten Verführern ist gemeinsam, dass sie, obwohl sie schlecht, erbärmlich, unheilbringend, niederträchtig, hassenswert, abscheulich oder diabolisch erscheinen, die Fähigkeit haben, andere Menschen zu vereinnahmen, sie auszunutzen und sie Dinge tun zu lassen, die sie nicht wollen. Wir fallen leichtgläubig auf ihre Tricks herein, verehren sie mit aufopfernder Liebe, Begeisterung, Ekstase und leidenschaftlicher Zuneigung. Wir sind folgsame Opfer ihrer Manipulation und ihrer Kunst der Willenslenkung. Und genau darum geht es in diesem Buch: um die Faszination des Bösen. Es geht um der Menschen Hörigkeit.
Und was spielt sich im Kopf von Individuen ab, die Spaß daran finden, andere Menschen zu entführen und zu foltern, oder die Kinder jahrzehntelang in einen Keller sperren, um sie zu missbrauchen und zu quälen? Welche bizarren Kapriolen vollzieht das Gehirn, wenn sich eine unheimliche Allianz zwischen den manipulativen Tätern und ihren hypnotisierten Opfern bildet? Vielleicht können wir dieses Rätsel mit Hilfe der Hirnforschung lösen,
Weitere Kostenlose Bücher