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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Wangen, und er wischte sie nicht einmal fort, als er jetzt zu einer Antwort ansetzte, sondern sprach einfach durch sie hindurch.
    »Ich weiß nicht, wie lange er fort war. Ich bin wieder wach geworden, als er zurückkam, und ich merkte gleich, daß etwas passiert sein mußte. Schon an der Art, wie er hereinkam. Diesmal wollte er mich bestimmt nicht wecken, ganz im Gegenteil. Aber auf einmal war so eine unheimliche Energie im Raum, daß ich einfach wach werden mußte. Ich setzte mich auf und machte Licht. Und da saß er und sah aus, als wäre ihm ein Gespenst erschienen. Ich fragte ihn, was los sei, aber er sagte, es sei nichts und ich solle weiterschlafen. Doch ich wußte, daß etwas Schreckliches passiert war.«
    Die Tränen liefen ihm immer noch ungehindert übers Gesicht. Er schniefte nicht und machte auch keine Anstalten, sie fortzuwischen. Und so rann Träne um Träne über seine Wangen und tropfte ihm aufs Hemd, das sich langsam dunkel färbte.
    »Irgendwann bin ich wohl tatsächlich eingeschlafen, und als ich wieder zu mir kam, rannten die anderen draußen schreiend über die Gänge. Das muß mich geweckt haben. Dann kam Zanchi hereingestürzt und rüttelte Filippi wach, und sie tuschelten miteinander. Mit mir haben sie nicht gesprochen, aber Zanchi warf mir einen Blick zu, und da wußte ich, daß ich den Mund halten mußte.«
    Wieder hielt er inne, und die beiden Polizisten sahen zu, wie seine Tränen fielen. Endlich wies Cappellini auf Pucetti und fuhr fort: »Ja, und dann sind Sie gekommen und haben Fragen gestellt. Aber ich hielt es wie alle anderen und sagte, ich wüßte von nichts.« Pucetti machte eine beschwichtigende Geste, und der Junge hob eine Hand und wischte sich die Tränen von der rechten Wange, ließ die anderen aber ungehindert weiterfließen. »Ich mußte es tun«, beteuerte er und fuhr sich mit der Armbeuge übers Gesicht. Als alle Tränen fortgewischt waren und sein Gesicht wieder zum Vorschein kam, sagte er: »Und dann war es zu spät, und ich konnte mit niemandem mehr reden.«
    Hilfesuchend sah er erst Pucetti an, dann Brunetti und senkte den Blick schließlich auf seine im Schoß gefalteten Hände. Brunetti und Pucetti tauschten einen verstohlenen Blick, aber keiner von beiden wagte etwas zu sagen.
    Auf der anderen Seite der Tür wurden Schritte laut, gingen vorbei und kamen zurück, aber ohne anzuhalten. Endlich fragte Brunetti: »Was sagen denn die anderen?«
    Cappellini zuckte nur mit den Schultern.
    »Wissen sie Bescheid, Davide?« hakte Pucetti nach.
    Wieder ein Schulterzucken, aber dann sagte er: »Ich weiß es nicht. Niemand spricht darüber. Es ist fast, als ob es nie passiert wäre. Auch die Lehrer reden nicht davon.«
    »Ich dachte, es hätte eine Trauerfeier gegeben«, sagte Pucetti.
    »Ja, aber die war ganz blöd. Sie haben Gebete vorgetragen und so. Bloß gesagt hat keiner was.«
    »Und Filippi? Wie hat er sich seitdem verhalten?« fragte Brunetti.
    Fast hätte man meinen können, der Junge habe darüber noch nie nachgedacht. Er hob den Kopf, und man sah ihm an, daß er von der eigenen Antwort überrascht wurde. »Wie immer. Keinen Deut anders. Als ob nichts geschehen wäre.«
    »Und hat er inzwischen mit dir gesprochen?« fragte Pucetti.
    »Nein, nicht richtig. Aber am nächsten Tag, also nachdem sie Moro gefunden hatten und Sie in die Schule kamen und Fragen stellten, da hat er zu mir gesagt, ich wüßte hoffentlich, was mit Verrätern geschieht.«
    »Und was, glauben Sie, hat er damit gemeint?« fragte Brunetti.
    Da erwachte Cappellini zum ersten Mal aus seiner Apathie und gab aufgebracht zurück: »Wie können Sie so etwas Dummes fragen!«
    »Ja, Sie haben recht, das war dumm«, gab Brunetti zu.
    »Wo finden wir denn die beiden anderen, Zanchi und Maselli?«
    »Rechts den Gang hinunter. Die dritte Tür.«
    »Können wir dich jetzt allein lassen, Davide?« fragte Pucetti.
    Der Junge nickte einmal, dann noch einmal, ließ den Kopf sinken und starrte auf seine Hände.
    Brunetti gab Pucetti das Zeichen zum Aufbruch. Der Junge blickte weder auf, als sie sich zum Gehen wandten, noch, als sie die Tür öffneten. Draußen auf dem Flur fragte Pucetti: »Und jetzt?«
    »Zanchi und Maselli, wie alt sind die?« fragte Brunetti zurück.
    Pucetti schüttelte bedauernd den Kopf, was Brunetti so verstand, daß beide noch minderjährig waren und also nur in Gegenwart der Eltern oder eines Rechtsbeistands verhört werden durften - zumindest, wenn ihre Aussagen vor Gericht verwertbar sein

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