Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Erscheinung fortzuwischen, aber als er die Augen wieder aufschlug, war der finstere Spuk noch immer da. Er wollte fliehen und schlich, weil er sich nicht traute, dem Gespenst den Rücken zu kehren, im Krebsgang zur Tür zurück, neben der er den Schalter für die Deckenbeleuchtung wußte. Wie er jetzt, halb betäubt vor ungläubigem Entsetzen und die Hand zitternd nach hinten gestreckt, fahrig über die Kacheln tastete, hätte man glauben können, mit der Berührung dieser Wand vergewissere er sich der letzten ihm noch verbliebenen Verbindung zur Realität.
Wie ein Blinder folgte er seiner sehenden Hand an der Wand entlang, bis er den Lichtschalter gefunden hatte. Die Neonröhren, die in langer Doppelreihe angeordnet waren, flammten eine nach der anderen auf und tauchten den Raum in ein kaltes, grelles Licht.
Während die gleißende Helligkeit sich flackernd ausbreitete, kniff er die Lider ganz fest zusammen. Nur nicht mit ansehen müssen, wie sich der Vampir, aus dem wohligen Schattendunkel seines Versteckes aufgescheucht, in Bewegung setzte! Erst als alle Lichter ruhig brannten, öffnete der Junge die Augen und zwang sich hinzusehen.
Obwohl die Spukgestalt im Hellen deutlicher hervortrat und Kontur gewann, verlor sie weder ihre Ähnlichkeit mit einer Fledermaus, noch milderte sich die Drohgebärde der im Luftzug schleifenden Flügel. Nur daß sich diese Flügel mit einemmal als der reiche Faltenwurf eines der dunklen Paletots entpuppte, die zur Winteruniform der Kadetten gehörten, und aus dem Fledermauskopf im Licht der Neonröhren der Kopf von Ernesto Moro wurde, einem Venezianer und, gleich dem Jungen, der sich nun, von heftigem Brechreiz geschüttelt, über einem Waschbecken krümmte, Schüler der Militärakademie San Martino.
2
E s dauerte ziemlich lange, bis die Behörden auf den Tod des Kadetten Moro reagierten, wobei diese Verzögerung am wenigsten seinem Klassenkameraden Pietro Pellegrini anzurechnen war. Der kehrte, sobald die Wellen der Übelkeit verebbten, auf sein Zimmer zurück, griff zum telefonino, das ihm schon fast wie ein natürlicher Fortsatz seiner Gliedmaßen erschien, so oft benutzte er es, und rief seinen Vater an, der geschäftlich in Mailand weilte. Pietro erklärte ihm, was passiert war oder vielmehr was er gerade gesehen hatte. Der Vater versprach zunächst, er würde die Polizei verständigen, besann sich dann aber in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt eines Besseren und entschied, der Sohn solle selber anrufen, und zwar unverzüglich.
Nicht, daß Pellegrinis Vater befürchtet hätte, sein Sohn könne etwas mit dem Tod des anderen Jungen zu tun haben. Aber als Strafverteidiger war er mit den Gedankengängen der Behörden wohlvertraut und wußte zum einen, daß ein Zeuge, der eine Straftat erst mit Verzögerung anzeigte, unweigerlich selbst in Verdacht geriet, und zum anderen, daß man es sich bei der Polizei gern einfach machte. Also riet er seinem Sohn - ja man könnte sagen, er befahl es ihm -, umgehend die Behörden zu verständigen. Der Junge, den sein Vater und zwei Jahre San Martino zu striktem Gehorsam erzogen hatten, bezog das auf die Schulbehörde, und so ging er nach unten, um seinem Direktor zu melden, daß in dem Waschraum im dritten Stock ein Toter hing.
Der Polizist in der Questura, der schließlich verständigt wurde, notierte den Namen des Anrufers und ließ sich den Sachverhalt schildern. Kaum war das Gespräch beendet, erkundigte er sich bei dem Kollegen, der mit ihm in der Telefonzentrale Dienst tat, ob sie die Meldung nicht an die Carabinieri weiterleiten sollten, da San Martino als Militäreinrichtung doch wohl eher in deren Zuständigkeit als in die der Questura falle. Nach einigem Hin und Her rief der zweite Polizist im Bereitschaftsraum an, um die Verfahrensfrage dorthin weiterzuleiten. Der Kollege, der drüben abhob, sagte, nein, die Akademie sei eine Privatschule ohne offizielle Anbindung an die Armee - er wußte das, weil der Sohn seines Zahnarztes auf die San Martino ging -, und folglich seien doch sie zuständig. Die zwei in der Telefonzentrale diskutierten noch eine Weile, bevor sie sich endlich der Meinung ihres Kollegen anschlossen. Da es inzwischen schon nach acht war, eine Zeit, zu der ihr Vorgesetzter für gewöhnlich bereits an seinem Schreibtisch saß, wählte einer der beiden die Nummer von Commissario Guido Brunetti.
Der bestätigte ohne Zögern ihre Zuständigkeit, fragte aber gleich darauf argwöhnisch: »Wann ist der Anruf
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