Buch Der Sehnsucht
zahlreicher. Offensichtlich sehnen sich die Menschen danach, ihre eigenen Wurzeln zu entdecken, um sich ihrer Identität zu vergewissern und so der Geschichtslosigkeit zu entrinnen. Sie merken, dass es zu wenig ist, nur auf Anerkennung und Bestätigung bedacht zu sein. Davon kann man letztlich nicht leben. Sie sehnen sich nach einem tieferen Grund. So viele Formen von Sehnsucht es gibt, so unterschiedlich sie sich in den Kulturen, den gesellscha ftlichen Situationen oder Lebensverhältnissen darstellen, gemeinsam ist ihnen eines: Sehnsucht zielt auf etwas, das „hinter" den erfahrenen Realitäten steht.
SCHLARAFFENLAND
Jemand hat zugespitzt gesagt, Werbung wecke in den Menschen das Bedürfnis nach Dingen, von deren Existenz sie vorher noch gar nichts gewusst hätten. Das funktioniert, indem man bestimmte Waren mit bestimmten Emotionen und Versprechungen „auflädt". Sehnsüchte werden dabei schamlos ausgenutzt. Da wird vor allem das Verlangen nach Glück angesprochen. Und es wird der Eindruck vermittelt, man könne sich das Glück kaufen. Der Trick dabei: Die Werbung verspricht ein schnelles Glück. Man kann es käuflich erwerben, hier und jetzt. Die Sehn-Sucht wird also kapitalisiert. Anstatt die Sucht in Sehnsucht zu verwandeln, geschieht das Umgekehrte. Denn das Ziel der Werbung ist - konsequent gedacht - die Kaufsucht, also ein seelischer Zustand, in dem Menschen immer und immer wieder durch Einsatz von Geld und durch Kauf von Waren versuchen, das Glück zu erwerben. Es ist auffällig: Oft spricht die Werbung eine religiöse Sprache. Da wird der Himmel auf Erden versprochen. Da wird eine Filmschauspielerin, die einen bestimmten Wagen fährt, zur „Göttin". Da soll der Kauf eines neuen CD-Players „himmlischen" Hörgenuss bescheren. In einer solchen Bild-Sprache wird also eine archetypische Sehnsucht angesprochen. Die Werbeleute wissen: Wer an die tief im Unbewussten sitzende Sehnsucht des Menschen rührt, der vermag ihn zu verführen, der bekommt Macht über seine Seele. Das einzige Heilmittel dagegen ist, dass wir unsere Sehnsüchte bewusst anschauen und uns fragen, was denn unsere tiefste Sehnsucht ist und wie sie erfüllt werden kann. Wenn die angesprochenen Sehnsüchte unbewusst sind, ist der Mensch leicht zu manipulieren. Wenn die Werbung dagegen auf einen Menschen stößt, der mit seiner Sehnsucht in Berührung ist, prallt sie von ihm ab. Denn er durchschaut ihre Manipulation und Verfälschung. Die Werbung zielt letztlich auf infantile Sehnsüchte. Es ist die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland, die Sehnsucht, dass all meine Wünsche erfüllt werden. Pascal Bruckner hat die Haltung des Infantilismus als typisch für unsere Zeit ausgemacht. Infantil ist, wer meint, alles sei möglich und die Gesellschaft sei nur dazu da, seine kindlichen Wünsche zu befriedigen. Die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland ist nicht reif und erwachsen. Die Sehnsucht des reifen Menschen überschreitet diese Welt und zielt auf eine Wirklichkeit, die letztlich allein die Sehnsucht zu erfüllen vermag.
EIN UNSTILLBARER DURST
Trunksucht, Arbeitssucht, Eifersucht, Drogensucht, Kaufsucht, Fresssucht, Magersucht, Sexsucht, Habsucht, Spielsucht... Die Liste ließe sich fortsetzen. Was steckt dahinter? Dass Sucht mit Sehnsucht zu tun hat, erfahren wir, wenn wir unseren Süchten auf den Grund gehen. Wir suchen das Absolute und wollen es festhalten. Wir suchen das Glück und fallen in Zwänge. Wenn meine gehobene Stimmung vom Alkohol herrührt, war es das schon? War das alles und für immer? Es geht darum, unsere Süchte zu Ende zu denken: Wenn ich mir immer wieder neue Dinge zulege und mich in einen Kaufrausch stürze, bin ich dann wirklich zufrieden mit dem, was ich erworben habe? Kann ich je genug haben? Endgültig und für immer? Wenn ich mich nicht von meinem Schreibtisch trennen kann, welches Ziel verfolge ich eigentlich? Was drängt mich in den Zwang zur ständigen Wiederholung? Auch wenn ich alles anhäufe in unersättlicher Gier, auch wenn ich von einem Partner zum nächsten wechsle, immer aufs Neue: Inmitten all der Fülle bleibt die innere Leere bestehen, und die Sehnsucht wird sogar noch größer. Der Drang kann sich in unendlicher Wiederholung nicht befriedigen. Ist es das? Oder sehne ich mich nach mehr? Sehne ich mich nicht nach einer ganz anderen Wirklichkeit?
Mein großes Ziel zerrinnt immer aufs Neue. Nichts Irdisches, kein Ding, kein Erfolg, kein geliebter Mensch kann unsere innere Unruhe beruhigen.
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