Buch Der Sehnsucht
dem ich daheim sein kann, weil das Geheimnis selbst in mir lebt. Dann kann ich auch am Himmel Maß nehmen.
EIN FROSCH IM BRUNNEN
„Ein Frosch, der im Brunnen lebt, beurteilt das Ausmaß des Himmels nach dem Brunnenrand." So lautet ein mongolisches Sprichwort. Die Mongolen sind ein Volk, das die Weite der Steppe liebt. Ihre Beweglichkeit und ihr Drang nach Offenheit sind aus der Geschichte bekannt. Und diese Eigenschaften prägen noch heute die nomadisierenden Stämme. Das zitierte Sprichwort macht ihre Weisheit gegenüber jeglicher geistigen Enge deutlich. Manchmal gleichen wir selbst dem Frosch, der das Ausmaß des Himmels nach dem Brunnenrand beurteilt. Wir sehen nur das Vordergründige. Der Frosch schwimmt im Wasser und blickt nur manchmal nach oben. So schwimmen wir in den vielen Aufgaben unseres Alltags. Ab und zu erheben wir unseren Blick und sehen den Himmel. Doch wir erkennen nicht seine unendliche Weite. Nur wer die Sehnsucht nach dem Unendlichen in sich trägt, kann die Unendlichkeit des Himmels wahrnehmen. Und darin liegt ein Paradox: Nur wer nach innen blickt, vermag richtig nach außen zu sehen. Nur wer in sich die Sehnsucht nach einer Welt trägt, die alles Diesseitige übersteigt, hat den rechten Blick für diese Welt. Sie ist nicht mehr alles für ihn. Die Sehnsucht korrigiert das, was er sieht, so dass alles sein rechtes Maß bekommt.
DER GESCHMACK DES LEBENS
›Manche leben mit einer so erstaunlichen Routine, dass es schwer fällt zu glauben, sie lebten zum ersten Mal. ‹ Der polnische Autor Stanislaw Jerzy Lec, einer der scharfsichtigsten Kritiker unserer Zeit, hat damit etwas auf den Punkt gebracht: Lec meint damit nicht Reinkarnation, sondern den Eindruck, den diese Menschen im Alltag auf ihn machen. Nichts im Leben hat für sie das Geheimnis, den Reiz der Einmaligkeit: Sie sind jung, sie stehen in der Blüte ihres Lebens, sie reifen und werden alt. Und immer leben sie so, als hätten sie es schon tausendmal erlebt. Sie haben kein Gespür für das Neue, das jeder Tag mit sich bringt, für das Einmalige, das jedes Lebensalter in sich birgt. Sie tun so, als wüssten sie schon alles. Doch in Wirklichkeit wissen sie nichts. Wissen kommt von vidi (ich habe gesehen). Diese Menschen sehen nichts. Sie leben blind dahin. Ihr Leben spielt sich ab wie im Marionettentheater. Sie leben nicht selbst, sie werden gelebt. Sie werden von außen gesteuert und machen phantasielos die immer gleichen Bewegungen. Sie haben keine Träume, die ihrem Dasein Leben einhauchen.
Aber genau darum ginge es doch: Dass wir uns unserer Einmaligkeit bewusst werden. Dass wir die immer gleiche Routine durchbrechen und den Sinn fü r das Einzigartige des Lebens spüren. Dass wir spüren, was es bedeutet: Ich atme, also bin ich. Ich bin da. Ich schmecke den Geschmack des Lebens, jeden Tag aufs Neue. Kein Tag gleicht dem ändern. Jeder von uns ist einzigartig und einmalig. Gott hat sich von jedem Menschen ein Bild gemacht, das allein in diesem Menschen Wirklichkeit wird. Unsere Aufgabe im Leben ist es, dieses ursprüngliche Bild in uns sichtbar werden zu lassen.
LANGEWEILE UND UNRUHE
Als ich kürzlich einen Vortrag über die Psychologie der Mönchsväter hielt und ausführte, was sie zum Phänomen der Akedia - was mit Langeweile oder Überdruss übersetzt werden könnte - gesagt haben, meinte eine Frau nachher zu mir, das passe genau auf ihren Mann. Und sie schilderte sein Verhalten: Wenn es neblig ist, wird er unausstehlich. Er wandert von einem Raum in den ändern. Während sie in der Küche arbeitet, liest er Zeitung. Doch auch dabei kann er es nicht aushalten. Er steht auf, setzt sich wieder hin, ist von einer ständigen Unruhe getrieben. Doch er tut letztlich nichts. Wenn sie ihn bittet, einen Handgriff im Haushalt zu machen, ist es ihm zu viel. Er hat ständig Wünsche an sie und hält sie von der Arbeit ab. Er schimpft auf das Wetter, auf die Kirche, auf die Politik, auf den Gemeinderat, auf den Nachbarn. Alles ist gegen ihn. Er hat Widerwillen gegen alles. Aber er weiß nicht, was er will. Er ist überdrüssig, verdrossen.
Das deutsche Wort „verdrießen" heißt im Mittelhochdeutschen: „Langeweile erregen". Es kommt von einer älteren Wurzel, die „ermüden, beschwerlich fallen" bedeutet. Wer Langeweile hat, ist ständig müde. Alles fällt ihm schwer. Was diese alten Mönche Akedia nennen, ist aber mehr als Langeweile. Es ist die Lustlosigkeit, die Trägheit, die Unzufriedenheit, der Überdruss, die
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