Buddenbrooks
ganz fremdartig erregt geworden.
{152} »Morten«, sagte Tony traurig. »Nun haben Sie sich
doch
geärgert, wenn Sie auf den Steinen saßen! Ich habe Sie doch gebeten, sich vorstellen zu lassen …«
»Oh, Sie nehmen die Sache wieder als junge Dame, zu persönlich, Fräulein Tony! Ich spreche doch im Prinzip … Ich sage, daß bei uns nicht mehr brüderliche Menschlichkeit herrscht, als in Preußen … Und wenn ich persönlich spräche«, fuhr er nach einer kleinen Pause mit leiserer Stimme fort, aus der aber die eigentümliche Erregung nicht verschwunden war, »so würde ich nicht die Gegenwart meinen, sondern eher vielleicht die Zukunft, … wenn Sie als eine Madame So und so einmal endgültig in Ihrem vornehmen Bereich verschwinden werden und … man Zeit seines Lebens auf den Steinen sitzen kann …«
Er schwieg, und auch Tony schwieg. Sie blickte ihn nicht mehr an, sondern nach der anderen Seite, auf die Bretterwand neben ihr. Es herrschte ziemlich lange eine beklommene Stille.
»Erinnern Sie sich«, fing Morten wieder an, »daß ich Ihnen einmal sagte, ich hätte eine Frage an Sie zu richten? Ja, die beschäftigt mich seit dem ersten Nachmittage, als Sie hier ankamen, müssen Sie wissen … Raten Sie nur nicht! Sie können unmöglich wissen, was ich meine. Ich frage ein anderes Mal, bei Gelegenheit; es hat keine Eile, es geht mich im Grunde gar nichts an, es ist bloß Neugierde … Nein, heute will ich Ihnen nur das Eine verraten … etwas Anderes … Sehen Sie mal.«
Hierbei zog Morten aus einer Tasche seiner Joppe das Ende eines schmalen, buntgestreiften Bandes hervor und sah mit einem Gemisch von Erwartung und Triumph in Tonys Augen.
»Wie hübsch«, sagte sie verständnislos. »Was bedeutet das?«
Morten aber sprach feierlich:
»Das bedeutet, daß ich in Göttingen einer Burschenschaftsverbindung angehöre – nun wissen Sie es! Ich habe auch eine Mütze in diesen Farben, aber die habe ich für die Ferienzeit dem Gerippe in der Polizistenuniform aufgesetzt … denn hier {153} dürfte ich mich nicht damit sehen lassen, verstehen Sie … Ich kann doch darauf rechnen, daß Sie reinen Mund halten? Wenn mein Vater von der Sache erführe, so gäbe es ein Unglück …«
»Kein Wort, Morten! Nein, auf mich können Sie zählen! … Aber ich weiß gar nichts davon … Sind Sie Alle gegen die Adligen verschworen? … Was wollen Sie?«
»Wir wollen die Freiheit!« sagte Morten.
»Die Freiheit?« fragte sie.
»Nun ja, die Freiheit, wissen Sie, die Freiheit …!« wiederholte er, indem er eine vage, ein wenig linkische aber begeisterte Armbewegung hinaus, hinunter, über die See hin vollführte, und zwar nicht nach jener Seite, wo die mecklenburgische Küste die Bucht beschränkte, sondern dorthin, wo das Meer offen war, wo es sich in immer schmaler werdenden grünen, blauen, gelben und grauen Streifen leicht gekräuselt, großartig und unabsehbar dem verwischten Horizont entgegendehnte …
Tony folgte mit den Augen der Richtung seiner Hand; und während nicht viel fehlte, daß Beider Hände, die neben einander auf der rauhen Holzbank lagen, sich vereinigten, blickten sie gemeinsam in die selbe Ferne. Sie schwiegen lange, indes das Meer ruhig und schwerfällig zu ihnen heraufrauschte … und Tony glaubte plötzlich einig zu sein mit Morten in einem großen, unbestimmten, ahnungsvollen und sehnsüchtigen Verständnis dessen, was »Freiheit« bedeutete.
9.
»Es ist merkwürdig, daß man sich an der See nicht langweilen kann, Morten. Liegen Sie einmal an einem anderen Orte drei oder vier Stunden lang auf dem Rücken, ohne etwas zu thun, ohne auch nur einem Gedanken nachzuhängen …«
»Ja, ja … Übrigens muß ich gestehen, daß ich mich früher {154} manchmal gelangweilt habe, Fräulein Tony; aber das ist einige Wochen her …«
Der Herbst kam, der erste starke Wind hatte sich aufgemacht. Graue, dünne und zerrissene Wolken flatterten eilig über den Himmel. Die trübe, zerwühlte See war weit und breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen wälzten sich mit einer unerbittlichen und furchteinflößenden Ruhe heran, neigten sich majestätisch, indem sie eine dunkelgrüne, metallblanke Rundung bildeten, und stürzten lärmend über den Sand.
Die Saison war völlig zu Ende. Der Teil des Strandes, den sonst die Menge der Badegäste bevölkerte und wo jetzt die Pavillons zum Teile schon abgebrochen waren, lag mit wenigen Sitzkörben fast ausgestorben da. Aber Tony und Morten
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