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Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Titel: Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fitten
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I
     
    V aleria pfiff nie und hielt auch nichts von Leuten, die pfiffen. Pfeifen war etwas für Grobiane, das hatten sie achtundsechzig Jahre Lebenserfahrung gelehrt. Jemand, der pfiff, war unzuverlässig und verantwortungslos, träge und vulgär. Metzger pfiffen. Bauern auch. Statt sich um ihre Felder zu kümmern oder andere Pflichten zu erfüllen, die ihnen als Bauern oblagen, saßen sie mit bierbenetztem Kinn in der Dorfkneipe, pfiffen der Schlampe hinterher, der die Kneipe gehörte, und erzählten unanständige Witze. Da war sich Valeria sicher.
    Und der Metzger war eindeutig der schlimmste Pfeifer. Er pfiff seinen Kunden direkt ins Gesicht, blies seinen stinkenden Atem jedem, der zu ihm kam, in die Nase. Wer montags beim pfeifenden Metzger vorbeischaute, musste ein paar Tage später in die Klinik.
    Daran dachte Valeria, als sie frühmorgens die Fugen ihres Verandabodens schrubbte. Sie war sich sicher, dass die Königin von England nicht pfiff. Auch der ungarische Prä sident pfiff nicht. Sie ging die sowjetische Geschichte rückwärts durch: Trotzki mochte gepfiffen haben; Lenin gewiss nicht, und Stalin pfiff nur, wenn er wütend war. Die späte ren Sowjetführer pfiffen nie, nicht einmal Gorbatschow. Und Jelzin? Bei dem Gedanken an Russlands Staatsoberhaupt drehte sich Valeria der Magen um. Ja, entschied sie, Jelzin pfiff vermutlich.
    Und vor den Kommunisten oder Reformkommunisten, oder wie sie sich heutzutage nannten, hatte es die Adligen gegeben, die auch nie pfiffen. Die Habsburger bestimmt nicht. Bei der Vorstellung musste Valeria lachen. Ein pfeifender Habsburger!
    Mit dem Handrücken wischte sie ein einzelnes Blatt weg. Sie erinnerte sich an das Pfeifen des Dorfbürgermeisters und fluchte.
    Es war zwar nur ein einziges Mal vorgekommen, außerdem wusste er nicht, dass man ihm nachspionierte. Doch Valeria beobachtete ihn. Sie mochte ihn nicht. Sie hielt nichts von seinem protzigen deutschen Wagen und seiner jungen Schickimicki-Braut. Für sie war der Bürgermeister nur ein geschickt dressierter Schimpanse, obwohl er viel taktloser und beschränkter war als ein Menschenaffe.
    Valeria seufzte. Der Bürgermeister war, wie er war – wie alle aus seiner Generation. Die Jüngeren waren heutzutage alle taktlos. Seitdem die Sowjets Ungarn verlassen hatten – ohne jegliches Zeremoniell, dürfte sie ergänzt haben   –, hatte sich das Land wie eine billige Gangsterbraut an den Westen herangemacht. Mit der Selbstachtung war es tatsächlich bergab gegangen. Junge Männer tauchten aus dem Nichts auf. Sie fuhren teure Wagen und verkehrten mit teuren, langbeinigen Frauen, die abgesehen von Sex zu nichts taugten und keinerlei Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft zu leisten imstande waren. Revolutionärinnen waren sie ganz gewiss nicht. Mit ihren schmalen Hüften und kleinen Brüsten konnten diese dümmlichen androgyn wirkenden Sexbomben nicht einmal die Revolutionäre von morgen gebären. Valeria stellte sich die Braut des Bürgermeisters beim Gebären vor und musste lachen. Zierrat! Nur als Dekoration taugten die neuen Frauen heutzutage.
Man muss sich das mal vorstellen
, dachte Valeria, – zuzulassen, dass man mit derselben Verachtung behandelt wird, dieKinder der Weihnachtsdekoration entgegenbringen, wenn sie schnell an ihre Süßigkeiten und Geschenke wollen.
Allein die Vorstellung!
– zuzulassen, dass man einfach so beiseitegeschoben oder gewalttätig zu Boden geschmissen oder an eine Wand geschleudert wird, oder dass man bestenfalls und nur mit viel Glück bis zum nächsten Weihnachtsfest in eine Schachtel gestopft wird. Valeria schüttelte den Kopf. Stell dir das vor! Eine ganze Frauengeneration, die getrimmt wurde, ihr gesamtes Innenleben abzuknipsen und nur noch jederzeit die Beine breitzumachen.
    Valeria schrubbte energischer, das Gesicht gerötet.
    Unterdessen, dachte Valeria, schlugen sich der Bürger meister und seine Kumpane anerkennend auf den Rücken. Ihre Bankkonten füllten sich   … die Herren bliesen den Bür gern Rauch ins Gesicht und wagten es ganz unverfroren, den ganzen stinkenden Flohzirkus eine Demokratie zu nennen. Verglichen mit den jovialen Kapitalisten, die für Ungarns
neue und verbesserte
freie Marktwirtschaft die Verantwortung trugen, waren die Kommunisten echte Philosophenkönige gewesen.
    Valeria spuckte auf den weißen Fleck Vogeldreck und kratzte ihn mit ihrem kurzen Fingernagel weg.
    Sie wischte sich über die Stirn. Dem neuen System war nichts mehr heilig, und darin lag

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