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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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was Wahrnehmung und Diskurs bestimmter Epochen über sie ERMITTELN,
     FESTSTELLEN. Gleich einem Gerichtsverfahren, das Appellation und Wiederaufnahme der Verhandlung zuläßt, geht er von der Vorläufigkeit
     dieser Ermittlungen und Feststellungen aus. In beständigem geschichtlichem Fluß begriffen, unterliegen diese Bestimmungen
     der Revision, die das momentan für wahr Gehaltene zweifelnd auflöst und neue Gewißheiten fixiert. – Ob z. B. der Mensch als
     Bürger Anspruch auf Subsistenz auch ohne Erwerbsarbeit besitzt, läßt sich weder aus dem Bürger- noch aus dem Menschsein folgern.
     Der Anspruch besteht, sofern der Diskurs die beiden Komponenten »Bürger« und »arbeitsfreie Subsistenz« auf eine für schlüssig
     gehaltene Weise zusammenfügt. Der Anspruch verfällt oder kann nicht erhoben werden, wenn eine solche Synthese im Raum des
     Denkbaren keine Überzeugungskraft entfalten oder in ihm als Möglichkeit gar nicht erst auftauchen kann. Daß der historische
     Stafettenlauf |27| der Gewißheiten in sich selbst geordnet verläuft, fortschrittlich, ist trotz aller zum Teil einschneidender Brüche eine sinnvolle
     Annahme. Jeweils spätere Feststellungen des Bürgers und seiner Rechte heben, langfristig gesehen, frühere Ansprüche in sich
     auf und erweisen sich ihnen dadurch als überlegen. Nur sorgt dafür kein Automatismus. Es sind immer konkrete soziale Kräfteverhältnisse,
     die den Ausschlag zugunsten dieser oder jener Konzeption des Arbeiters, Bürgers oder Menschen geben, die deren spezifisches
     kulturelles Gewicht ermitteln. Diese Kräfte aufzuspüren, ins Diskursgeschehen einzuführen ist Teil des Programms des methodologischen
     Nominalismus; davon abzusehen hieße in bloße Ideengeschichte zurückzufallen.
    § 2 Die Arbeitenden:
notwendig, aber nicht dazugehörig
    1. Die erste systematische Klassifikation der »Arbeitswelt« in unserem Kulturkreis, dem abendländischen, findet sich bei Platon,
     in seiner »Politeia«. Dort ordnet er die unter dem Diktat der Notwendigkeit, der sozialen Notdurft stehenden Beschäftigungen,
     zerteilt er den untersten gesellschaftlichen Stand, den »Nährstand«, nochmals in Stände, in wahlverwandte Berufsgruppen. Voran
     die Bauern und Handwerker, die greifbare Dinge, verkäufliche Waren hervorbringen, gefolgt von Krämern und Handelsleuten, »schwächlichen
     Naturen«, die das daheim oder auswärts schon Hervorgebrachte nur vermitteln, zu den Märkten weiterleiten. Ganz unten in dieser
     Hierarchie der Notgebeugten stehen die Tagelöhner. Ohne spezielle Fähigkeiten, nur auf ihre Körperkraft verwiesen, sind sie
     es, die im eigentlichen und engeren Sinne »arbeiten« und nichts als das. Inbegriff des Elends und des Ausgeliefertseins, definiert
     das antike Proletariat zugleich den gesamten Nährstand als einen minderwertigen, dem Begehren unterworfenen, weder |28| tapfer wie die Wächter noch weise wie die Regierenden. Damit dieser Bodensatz nicht »aufschwemme«, die Herrschaft über das
     Ganze an sich reiße, müssen Vernunft und Mut ein festes Bündnis gegen den Erwerb und alle niederen Instinkte schließen.
    Die »Politeia« ist kein Abbild der griechischen Zustände zu Platons Zeit, der im Niedergang begriffenen Stadtstaaten, sondern
     der Entwurf eines Idealstaates, eines guten, gerechten Gemeinwesens, das diese Krise durch Gemeinsinn überwindet. Das Ganze
     genießt Vorrang und Vorrecht gegenüber seinen Teilen, gegenüber Ständen und Individuen; niemand steht über ihm und niemand
     außerhalb. An der Spitze der Pyramide emanzipiert kommunistische Gütergemeinschaft die Regierenden von allzu irdischen Interessen,
     beugt sie der oligarchischen Versuchung vor. Der Gott des Reichtums, Pluto, wird aus der politischen Sphäre verbannt. Am Sockel
     bannt die Aufhebung der Sklaverei als ökonomischer Basis des Gesellschaftsbaus die Gefahr des Umschlags sozialer Erniedrigung
     in Unruhen oder Aufruhr. Nur eine soziale Gruppe findet in dieser Konstruktion keinen rechten Halt – die Proletarier. »Ein
     ergänzender Teil der Stadt«, das scheinen sie zu sein, aber welche Gewißheit, welche Sicherheit können Menschen daraus schöpfen,
     »die von seiten des Verstandes wohl nicht sehr in die Gemeinschaft gezogen zu werden verdienen«? 8 Ohne definitiv ausgeschlossen zu sein, gehören sie doch nicht richtig dazu, stehen und bewegen sie sich gleichsam auf der
     Grenze zwischen innen und außen. Ihr soziales Sein ist diffus, uneindeutig, fragwürdig, die

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