Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
PROLOG
G eoffrey Shafer, elegant gekleidet mit einreihigem blauem Blazer, weißem Hemd, gestreifter Krawatte und schmaler grauer Hose von H. Huntsman & Sons, verließ um halb acht morgens sein Stadthaus und stieg in seinen schwarzen Jaguar XJ12.
Langsam fuhr er den Wagen rückwärts aus der Einfahrt, dann trat er aufs Gas. Kurz vor dem Stoppschild an der Connecticut Avenue in Kalorama, dem Nobelviertel Washingtons, fuhr das Coupé über vierzig Meilen pro Stunde.
Als Shafer die belebte Kreuzung erreichte, hielt er nicht, sondern beschleunigte weiter. Bald jagte er mit sechzig Sachen über die Straße. Er hatte das unbändige Verlangen, den Jaguar gegen die hohe Natursteinmauer zu fahren, von der die Avenue begrenzt wurde. Shafer lenkte den Jag näher an die Mauer heran, konnte den Frontalaufprall schon vor dem inneren Auge sehen, konnte ihn am ganzen Leib spüren …
Im letzten Sekundenbruchteil vermied er den tödlichen Crash und riss das Lenkrad nach links. Der Sportwagen schlingerte mit kreischenden Reifen über den Asphalt, und der Geruch nach verbranntem Gummi verpestete die Luft.
Für einen Augenblick stand der Jaguar; dann schoss er wieder nach vorn und raste auf die Gegenfahrbahn. Die glänzende dunkle Windschutzscheibe schien die Flut des entgegenkommenden Verkehrs anzustarren.
Wieder trat Shafer das Gaspedal durch, setzte seine Amokfahrt fort. Jeder Pkw, jeder Laster hupte laut und anhaltend, wenn er dem Geisterfahrer mit waghalsigen Manövern auswich.
Shafer schien es gar nicht zu hören; er schien überhaupt nichts wahrzunehmen. Er jagte über die Avenue und wurde immer schneller. Der Jaguar raste über die Rock Creek Bridge und bog nach links ab, dann noch einmal nach links auf den Rock Creek Parkway.
Unwillkürlich, ganz kurz und unerwartet, kam ein leiser Schmerzensschrei über Shafers Lippen, und er bremste ab. Ein Augenblick der Angst, der Schwäche. Dann aber trat er das Gaspedal wieder bis zum Anschlag durch. Der Motor heulte auf, als die Automatik herunterschaltete und Shafer von der Beschleunigung in den Sitz gepresst wurde. Er jagte zurück auf die richtige Fahrspur. Sekunden später fuhr er bereits fünfzig … sechzig, kurvte in wildem Zickzack um die langsamer fahrenden Limousinen, die Lieferwagen und einen rußbedeckten Laster herum. Nun hupten nur noch wenige Wagen. Die Fahrer auf dem Parkway waren geschockt und vor Todesangst wie gelähmt.
Mit fünfzig Meilen fuhr Shafer vom Parkway hinunter – und gab erneut Gas.
Die P Street war um diese Zeit noch belebter als der Parkway. Washington erwachte und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Noch immer sah Shafer die lockende Mauer auf der Connecticut Avenue vor sich. Verdammt, er hätte nicht ausweichen sollen! Jetzt suchte er nach einem anderen Hindernis, so fest wie Beton – nach irgendetwas, das sich für einen Aufprall eignete.
Als Shafer sich dem Dupont Circle näherte, fuhr er sechzig Meilen und schoss förmlich durch die Stadt. An einer roten Ampel warteten die Autos auf zwei Fahrbahnen. Jetzt gibt es keinen Ausweg mehr, schoss es Shafer durch den Kopf. Nicht nach links und nicht nach rechts.
Doch er wollte nicht auf ein Dutzend Autos auffahren. Es war nicht die feine englische Art, die Sache auf diese Weise abzuschließen – sein Leben zu beenden –, indem er auf einen gewöhnlichen Chevy Caprice, einen Honda Accord oder einen klapprigen Lieferwagen auffuhr.
Shafer fuhr einen wilden Schlenker nach links und schoss als Geisterfahrer auf die Fahrspur, die nach Westen führte. Er sah die fassungslosen, vor Furcht und Entsetzen verzerrten Gesichter hinter den schmutzigen Windschutzscheiben. Die Hupen stimmten ihr grelles Konzert an – eine schrille Symphonie der Angst.
Er überfuhr die nächste rote Ampel und schoss zwischen einem entgegenkommenden Jeep und einem Betonmischer hindurch. Dann jagte er die M Street hinunter und bog auf die Pennsylvania Avenue in Richtung Washington Circle ab. Vor ihm lag das Medical Center der George-Washington-Universität – ein perfektes Ende?
Wie aus dem Nichts erschien ein Streifenwagen der Metropolitan Police. Die Sirenen heulten in wildem Protest, und das zuckende Blaulicht forderte Shafer zum Anhalten auf. Er verlangsamte das Tempo und hielt am Bordstein.
Der Polizist ging zu Shafers Wagen, die Hand am Halfter. Er sah verängstigt und unsicher aus.
»Steigen Sie aus!«, befahl der Cop.
Unvermittelt fühlte Shafer sich ruhig und gelassen. In seinem Inneren war keine Anspannung
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