Bullenball
verliebt? Da wäre ich ja schön blöd. Nein, nein. Du
kannst ihn haben, wirklich. Ich wünsche euch Glück.«
Es klang ganz aufrichtig. Sie schien es ernst zu meinen.
»Jetzt komm.« Marie schnappte sich ihren Klarinettenkoffer. »Wir sind
spät dran.«
Die letzten fünf Minuten vor dem Auftritt: Während Marie eilig ihre
Klarinette zusammenbaute, breitete Jule die Noten aus. Sie sah sich um. Die
Posaunenreihe war verwaist, von Jonas nichts zu sehen. Da war nur sein Instrument,
das verloren in dem Ständer hing.
Jules Bruder Niklas tauchte auf. Er schlurfte allein zu seinem
Platz, hielt wie immer Abstand zu den anderen. Ein schmächtiger blasser
Teenager mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. Auch diesmal verwendete er viel
Sorgfalt darauf, seine Verachtung für die ganze Welt demonstrativ zur Schau zu
stellen. Jule erinnerte sich, wie er als kleiner Junge Einmachgummis an seiner
Posaune befestigen musste, um mit seinem kurzen Arm an den Zug zu gelangen.
Damals konnte er sich nichts Aufregenderes vorstellen, als eines Tages in der
Jazzband mitzuspielen. Diese Zeiten waren lange vorbei, und Jule hatte keine
Ahnung, weshalb er überhaupt noch dabei war. Spaß schien ihm das Ganze
jedenfalls nicht zu machen.
In diesem Moment kletterte Jonas mit zwei randvoll gefüllten
Pappbechern zur Posaunenreihe hinauf. Weißwein schwappte dabei über die
Stuhlreihen. Jule beobachtete ihn. Es war schon seltsam. Obwohl sie Jonas seit
dem Kindergarten kannte, passierte es immer wieder, besonders wenn sie ihn ganz
plötzlich auftauchen sah, dass sie ganz irritiert und benommen war von seinem
guten Aussehen. Er setzte sich zu ihrem Bruder in die Reihe, reichte ihm einen
Becher und plauderte einfach drauflos, ohne sich an dessen Gleichgültigkeit zu
stören. Jonas tat alles, um ihren Bruder in die Gruppe einzubinden, und das war
einer der Gründe, weshalb sie ihn liebte.
Sie verlor sich in Phantasien über ihre gemeinsame Zukunft auf dem
Bauernhof, der Jonas’ Eltern gehörte und den sie einmal übernehmen würden. Dort
würden sie eine Familie gründen. Vier Kinder, mindestens. Alles Jungen, ein
quirliger Haufen wäre das … Sie stockte. Und Mädchen natürlich. Sie schämte
sich, nur an Jungen zu denken, anstatt: Hauptsache, gesund. Vergiss, was du
gesehen hast. Jonas vorm Pausenhof der Grundschule. Der hungrige Blick, den er
den kleinen Mädchen zugeworfen hatte. Sie hatte schon diese dunkle Ahnung
gehabt, doch in diesem Moment war ihr Herz stehen geblieben.
Jule schüttelte energisch den Kopf. Das bildest du dir nur ein,
sagte sie sich. Jonas wäre auch den Mädchen ein guter Vater. Alles andere war
reinster Unsinn.
Eine durchdringende Stimme ließ sie zusammenfahren.
»Du willst wirklich heiraten? Ich glaub es ja nicht!«
Sie wirbelte herum. Uli war aufgetaucht, Jule hatte ihr Kommen gar
nicht bemerkt. Marie stand neben ihr und lächelte schuldbewusst, offenbar hatte
sie die Neuigkeit gleich weitererzählt.
»In jedem Supermarkt gehst du als Zwölfjährige durch«, fuhr Uli
fort. »Ich habe noch nie erlebt, dass du mit einer Flasche Bier keinen Ausweis
an der Kasse vorzeigen musstest. Und jetzt heiratest du! Der Standesbeamte wird
dich für das Blumenmädchen halten.«
»Nicht so laut«, zischte Jule. »Wir wollen es den anderen erst nach
dem Konzert sagen.«
Uli setzte sich und ließ ihren Klarinettenkasten aufspringen. Sie
machte weiter Witze über die Hochzeit, doch Jule achtete gar nicht darauf. Die
Posaunenreihe war jetzt vollständig. Jonas hatte es tatsächlich geschafft,
ihren Bruder in ein Gespräch zu verwickeln. Der lachte sogar ab und zu und
wirkte gar nicht mehr so gelangweilt.
Natürlich musste Jule überall den Ausweis vorzeigen. In jeder Disco,
im Supermarkt, manchmal sogar in einer Kneipe. Trotzdem war sie eine erwachsene
Frau. Sie hatte den Körper einer Frau, daran gab es keinen Zweifel. Jonas
liebte sie als Frau.
Das Quietschen einer Rückkopplung ertönte, dann war die Stimme von
Günter Ehlers klar und deutlich im ganzen Park zu hören: »Guten Abend, meine
Damen und Herren! Herzlich willkommen zur Jazznight auf dem Weinfest im
Schlosspark.« Er stand auf der Bühne, mit seinem schlohweißen Haar und dem
Anzug aus den Siebzigern, und strahlte wie immer glücklich ins Publikum.
Jule konzentrierte sich auf ihre Noten. Es ging los. »Spanish
Fever«. Ein lauter Auftakt der Blechbläser, danach ein schneller Rhythmus auf
dem Schlagzeug, und es brauchte nur wenige Takte, um Jule völlig eintauchen
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