Butter, Brot und Laeusespray
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Zehn Jahre später. Beim Großreinemachen stolpere ich über die Spezialschublade, welcher ich seit 1999 keinerlei Beachtung geschenkt habe. Ich ziehe sie aus der Kommode, mein Blick fällt auf die beschriftete Rückseite eines Kassenbons, und ich beginne zu lesen: «Getränke», gefolgt von einem langen Nichts. Nanu. Warum die Lücke? Ist die Schrift verblichen? Wollte der Einkäufer an dieser Stelle später etwas nachtragen und hat dies dann vergessen? Will er ein «Nichts» kaufen? Oder sind derartige Lücken auf Einkaufszetteln völlig normal? Oder bin ich eventuell einfach nur blöd und stell die falschen Fragen? In diesem Moment fällt mir auf, dass ich mich mit der Welt der Notizologie noch nie beschäftigt habe. So groß wie die Lücke, die auf diesem Zettel den «Getränken» folgt, so groß ist meine Wissenslücke, wenn’s um die geheimen Botschaften geht, die sich in und zwischen den Zeilen derartiger Zettel verbergen. Und weil ich gerade nichts Dringenderes zu tun habe, versuche ich, das Lücken-Rätsel zu lösen. Ich ziehe also die Stirn in Falten, denke ein Minütchen scharf nach, versuche mich dann vorsichtig an einer Interpretation. Also: Die Flüssigkeitsversorgung steht für den Schreiber dieser Liste ganz obenan. Okay, die Betonung der Hydration ist wahrscheinlich nichts Besonderes, der Einkäufer hat eben Durst, er istein Mensch wie du und ich. Mein Interesse ist jedenfalls geweckt, und ich lese weiter. «Milch, Maggi-Zeug, Blumenerde». Hm. Bei diesen Wörtern schießt mir sogleich allerhand durch den Kopf: die Mutterbrust, dann die sprachliche Herabwürdigung der Würze, also im Umkehrschluss die Preisung der Frugalität, des einfachen Lebens, und schließlich stecken in der «Blumenerde» Heimat, dampfende Scholle, Werden und Vergehen. Können Sie mir folgen? Falls nicht, lesen Sie die Wörter «Milch», «Maggi-Zeug» und «Blumenerde» einmal laut, langsam und überdeutlich vor und spüren dem Klang der Wörter hinterher. So jedenfalls gehe ich in diesem Moment vor, und es durchflutet mich heiß; lange habe ich nichts so Fesselndes, so Tiefsinnig-Anrührendes gelesen wie just in diesem Moment. Weiter im Text: «Graue Hose, Brötchen». Ich schließe langsam die Augen und sehe einen älteren Herrn, der sich von Brötchen, Milch und Maggi ernährt und ansonsten allen leiblichen Genüssen abhold ist. Seine Sympathie, seine Sorge gehören den Blumen im Garten; und um die Pracht seiner blühenden Zöglinge zu maximieren, lässt er selber sich gleichsam verschwinden, tarnt sich mit einem unauffälligen Beinkleid. Auch hier sind Sie herzlich eingeladen, selber zu deklamieren. Indem man «graue Hose, Brötchen!», mit Verve zum Fenster hinausschmettert, wird einem schlagartig vieles klar, glauben Sie mir.
Diese Liste jedenfalls ist ein Dokument der Uneigennützigkeit, der Selbstaufgabe, der hehren Liebe zur Schöpfung.
Mich deucht, dass es sich bei dieser Handvoll Einkaufszettel in meiner Schublade um eine literarische Preziose handelt, um ein Zeugnis menschlichen Daseins im Konsumzeitalter. Oder ist meine Interpretationsfreude gar zu ausgeprägt? Glitsche ich soeben in die trüben Wasser der Unseriosität ab? Kontrollhalber greife ich nach dem nächsten Zettel.
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«Sportstudio Hirsch» in der Bockschützstraße 14 – diese Adresse hat eine angenehm alberne Note, wenigstens für mich, der mit «Harry Hirsch» und «Null Bock» aufgewachsen ist und der noch weiß, was für ein Gegenstand über der Telefonnummer abgebildet ist. Habt ihr’s erkannt, liebe Kinder? Richtig, es handelt sich um ein Telefon mit Wählscheibe, heute ähnlich selten im Einsatz wie Anlasserkurbel oder Zündnadelgewehr. Der Zeichner hat hier eine Wackelbewegung angedeutet. Diese, liebe Kinder, geht nicht auf einen Vibrationsalarm zurück, sondern auf eine mechanische Klingel mit Schelle und Schlägel. Das Dingsbums, das da an eine Farbpalette oder einen Schlagring erinnert, ist eine Wählscheibe. In diese musste der Fernsprechwillige den Finger hineinstecken und drehen – um dann die Scheibe selbsttätig zurücklaufen zu lassen, und zwar vollständig, bis ganz zurück auf die Ausgangsposition; wer keine Geduld mitbrachte und vor abgeschlossenem Rücklauf der Scheibe die nächste Nummer wählte, wurde falsch verbunden.
Kann man anhand der Produktauswahl das Alter des Einkaufszettels ermitteln? In diesem Fall eher nicht; selbst die etwas befremdliche Kombi «Süßes Kid’s/Hackfleisch» atmet nicht den Geist einer
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