Byrne & Balzano 1: Crucifix
spritzen?«, fragte Byrne.
»Man braucht ein paar Grundkenntnisse, um keine Muskeln zu treffen«, erklärte Weyrich. »Aber mit ein wenig Übung lernt man es schnell. Ein Krankenpfleger schafft es ohne Probleme. Andererseits kann man heutzutage mit den Infos aus dem Netz Atomwaffen bauen.«
»Und die Droge selbst?«, fragte Jessica.
»Auch aus dem Internet«, sagte Weyrich. »Ich bekomme alle zehn Minuten kanadische Spam-Mails für OxyContin. Aber der Nachweis von Midazolam im Organismus des Mädchens erklärt nicht, warum ihr Körper keine Kampfspuren aufweist. Auch unter Einwirkung von Drogen hat man den Instinkt, sich zu wehren. Und die Menge, die wir in ihrem Organismus gefunden haben, war nicht so groß, dass sie das Opfer vollkommen außer Gefecht gesetzt hätte.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Jessica.
»Ich glaube, es ist noch etwas anderes im Spiel. Dafür müssen wir weitere Tests durchführen.«
Jessica sah einen kleinen Umschlag auf dem Tisch liegen. »Was ist das?«
Weyrich nahm den Umschlag in die Hand. Er enthielt ein kleines Bild, eine Reproduktion eines alten Gemäldes. »Das steckte zwischen ihren Händen.«
Er zog das Bild mit einer gummierten Pinzette heraus.
»Es wurde zwischen ihre Handflächen gerollt«, fuhr er fort. »Wir haben es nach Fingerabdrücken untersucht, aber keine gefunden.«
Jessica schaute sich die Reproduktion genau an, die ungefähr die Größe einer Bridgekarte hatte. »Wissen Sie, was das ist?«
»Die Kriminaltechnik hat ein Digitalfoto davon angefertigt und zur kunsthistorischen Abteilung der Uni geschickt«, sagte Weyrich. »Das Bild heißt Dante und Vergil vor dem Höllentor von William Blake.«
»Wissen Sie, was es bedeutet?«, fragte Byrne.
»Sorry. Keine Ahnung.«
Byrne starrte ein paar Sekunden auf das Bild, bevor er es in den Umschlag steckte und sich wieder Tessa Wells zuwandte. »Wurde sie missbraucht?«
»Ja und nein«, erwiderte der Gerichtsmediziner.
Jessica schaute ihren Partner an. Tom Weyrich gehörte normalerweise nicht zu den Menschen, die es gern spannend machten. Es musste also einen guten Grund geben, warum er das, was er ihnen gleich sagen würde, einen Moment zurückhielt.
»Was soll das heißen?«, fragte Byrne.
»Meine Voruntersuchungen haben ergeben, dass sie nicht vergewaltigt wurde und in den letzten Tagen auch keinen Geschlechtsverkehr hatte«, sagte Weyrich.
»Okay. Das ist also nicht passiert«, sagte Byrne. »Und was ist passiert?«
Weyrich zögerte eine Sekunde, ehe er das Tuch über Tessas Oberschenkel zog. Die Beine der jungen Frau waren leicht gespreizt. Was Jessica nun sah, nahm ihr den Atem. »Mein Gott«, entfuhr es ihr.
Grabesstille breitete sich aus.
»Wann wurde ihr das zugefügt?«, fragte Byrne schließlich.
Weyrich räusperte sich. Er machte diesen Job nicht erst seit gestern, doch so etwas war auch ihm offensichtlich noch nicht begegnet. »Wahrscheinlich in den letzten zwölf Stunden.«
»Vor Eintritt des Todes?«
»Vor Eintritt des Todes«, erwiderte Weyrich.
Jessicas Blick wanderte zurück zur Leiche. Das Bild des unwürdigen Endes dieser jungen Frau brannte sich ihr ins Gedächtnis, und sie wusste, dass es sehr lange dort verweilen würde.
Tessa Wells war nicht nur auf dem Weg zur Schule entführt worden. Sie war nicht nur unter Drogen gesetzt und an einen Ort gebracht worden, wo jemand ihr das Genick gebrochen hatte. Ihre Hände waren nicht nur durch eine Stahlschraube verstümmelt und zu einem ewigen Gebet verschraubt worden. Wer immer ihr das angetan hatte, hatte sein Werk mit einer letzten Demütigung beendet, die bei Jessica heftige Übelkeit auslöste.
Tessa Wells’ Vagina war zusammengenäht worden.
Und der grobe Stich des dicken schwarzen Fadens besaß die Form eines Kreuzes.
12.
Montag, 18.00 Uhr
W enn J. Alfred Prufrock sein Leben in Kaffeelöffeln maß, so maß Simon Edward Close seines in Deadlines. Er hatte weniger als fünf Stunden Zeit bis zur Deadline für den Druck der neuen Ausgabe des Report . Da die Abendnachrichten des Lokalsenders keine Details gebracht hatten, hatte er nichts zu berichten.
Wenn er sich zwischen den Reportern der so genannten seriösen Presse bewegte, war er ein Ausgestoßener. Sie betrachteten ihn, wie man ein mongoloides Kind betrachtete, mit Blicken vorgetäuschten Mitleids und Ersatzsympathie, aber auch mit einem Ausdruck, der besagte: Das hier ist unsere Party. Wir können dich nicht rausschmeißen, aber rühr
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