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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
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Das Leben
     
     
    Anfangs dachte ich, Rimbaud wäre ein Wohnturm. Weil man Rimbaud-Turm sagt. Dann aber erklärte mir mein Kumpel Yéyé, dass Rimbaud ein Dichter gewesen ist. Warum man meinem Wohnturm den Namen eines Dichters gegeben hat, ist mir schleierhaft. Yéyé meinte, weil der Mann bekannt war und vor langer Zeit gestorben ist. Ich habe natürlich gleich gefragt, ob er gestorben ist, nachdem er unseren Wohnturm gesehen hat. Yéyé meinte, nein, der wäre schon viel früher gestorben. Umso besser für ihn, habe ich erwidert, weil der Turm grottenhässlich ist und Rimbaud bestimmt genervt wäre, wenn er wüsste, dass sein Name für so was genommen wird. Yéyé wandte ein, er fände es gut, wenn man seinen Namen für überhaupt irgendetwas verwenden würde. Ich fände es total daneben, in einem Yéyé-Turm zu wohnen, habe ich gesagt. Ich soll mich verpissen, war Yéyés Antwort, und mein Name wäre ja wohl auch nicht besser.
    Ich heiße Charly.
    »Charly-Turm, das klingt noch bescheuerter als Yéyé-Turm.«
    Da musste ich ihm insgeheim recht geben, trotzdem habe ich gesagt, er soll sich selbst verpissen.
    Wir haben noch eine Weile so weitergeredet, denn es gibt einen Haufen Dichter, nach denen sie in unserem Viertel irgendwelche Sachen benannt haben. Verlaine-Turm. Cité Hugo. Centre Guillaume Apollinaire. Und von all diesen Dingern ist eines hässlicher als das andere. Aber die Dichter sind ja gestorben, bevor sie davon erfahren haben, also was soll’s. Monsieur Hidalgo, irgend so ein Lehrer an der Schule, auf die mein Bruder Henry gegangen ist, sagt, es ist eine Schande, sich der Kunst zu bedienen, um Scheußlichkeiten zu verhüllen. Aber den meisten Leuten ist das egal, weil sie die Center und Türme sowieso früher oder später umtaufen. Die Bewohner des René-Char-Turms zum Beispiel sagen nie, dass sie im René-Char-Turm zu Hause sind. Die sagen »der blaue Turm«. Keine Ahnung, wie sie darauf kommen, denn der Turm ist nicht wirklich blau. Unter uns: Der Turm ist grau. Genauso ist es mit der Cité Picasso auf der anderen Seite des Einkaufszentrums. Kein Mensch spricht von der »Cité Picasso«. Obwohl es sogar eine Bushaltestelle Picasso gibt. Die Leute sagen »Viertel der Raubvögel«.
    Ich schwöre Ihnen, es gibt mehr Raubvögel in dieser Gegend als Picassos.
    Yéyé und ich haben uns gefragt, wie das wohl so läuft. Muss doch großartig sein, irgendwas als Erster zu sagen, und dann bleibt es für immer. Bestimmt ist der Typ, der die Cité als Erster nach den Raubvögeln benannt hat, verdammtglücklich, dass die Leute sie immer noch so nennen.
    Ich würde ja gerne eine witzige Geschichte oder eine schreckliche Horror-Story erfinden, die sich alle weitererzählen. Und wenn sie dann eines Tages jemand
mir
erzählt, würde ich mich totlachen.
    Ich würde zu dem Kerl sagen: »Krieg dich wieder ein, Mann, die Geschichte stammt von mir!«
    Yéyé und ich haben versucht, uns eine auszudenken. Das war gar nicht so einfach, weil wir immer wieder bei einer Story gelandet sind, die es schon gab. Mein Bruder Henry hat mir mal etwas erzählt, bei dem es mich mindestens drei Wochen lang gegruselt hat. Er hat erzählt, dass Menschen, die an einer Überdosis gestorben sind, als Geist in den Kellern der Gebäude spuken und versuchen, einen mit ihren widerlichen Spritzen zu piken. Ich kann Ihnen sagen, danach hab ich mich geweigert, auch nur einen Schritt weiter als runter ins Erdgeschoss zu gehen. Ich habe Yéyé die Geschichte erzählt, und er meinte, das wäre ja wohl kompletter Blödsinn und mein Bruder, der selber Junkie ist, würde wahrscheinlich diese Gespenster sehen, wenn er sich einen Schuss setzt. Er soll sich verpissen, habe ich zu Yéyé gesagt, und sich um den Scheiß seines eigenen Bruders kümmern, der genauso ein Junkie ist. Er meinte, das wäre doch derselbe Scheiß, weil unsere Brüder sich immer zusammen einen Schuss setzten.
    Yéyé ist das, was man sich unter einer fürchterlichen Nervensäge vorzustellen hat. Ich schwör’s Ihnen, der Typflunkert Ihnen schon das Blaue vom Himmel herunter, wenn Sie ihn nur nach der Uhrzeit fragen. Er ist zwölf und bereits der König der Aufschneider.
    Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin oft genug mit ihm unterwegs. Manchmal sitzt er vor unserem Turm oder in der Eingangshalle und labert die Leute schräg von der Seite an. Wenn er eine alte Frau sieht, die sich, schwer beladen mit ihren Einkaufstüten, die Treppe hinaufkämpft, ruft er, anstatt ihr zu

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