Byrne & Balzano 3: Lunatic
das Strangulationsmal, der Tatort selbst, das Gebäude, der Fluss, das Opfer.
Jessica steckte die Bilder in ihre Umhängetasche. Sie würde sie sich später noch einmal anschauen. Für heute hatte sie genug gesehen. Sie brauchte einen Drink. Oder zwei.
Sie schaute aus dem Fenster. Es dunkelte bereits. Jessica fragte sich, ob heute Nacht der Halbmond am Himmel stehen würde.
17.
E s gab einmal einen mutigen Zinnsoldaten. Er und alle seine Brüder waren aus demselben Löffel gegossen worden. Sie waren blau gekleidet und marschierten in einer Reihe. Sie waren gefürchtet und geachtet.
Moon wartet gegenüber vom Wirtshaus in aller Seelenruhe auf seinen Zinnsoldaten. Die Lichter der Stadt und die Weihnachtsbeleuchtung funkeln in der Ferne. Moon steht in der Dunkelheit und beobachtet die Zinnsoldaten, die in die Kneipe gehen oder herauskommen. Und er denkt an das Feuer, das sie zum Schmelzen bringen würde.
Doch hier geht es nicht um sämtliche Soldaten, die mit aufgesteckten Zinnbajonetten, den Blick nach vorne gerichtet, in der Schachtel lagen, sondern nur um einen einzigen. Er ist ein alternder Krieger, aber noch immer stark. Es wird nicht einfach sein.
Um Mitternacht wird dieser Zinnsoldat die Schnupftabaksdose öffnen und seinen Kobold treffen. In diesem entscheidenden Augenblick wird es nur ihn und Moon geben. Es wird keine anderen Soldaten geben, die ihm helfen könnten, keine aus Papier ausgeschnittene Jungfrau, die um ihn trauert. Das Feuer wird furchtbar sein, und er wird Zinntränen vergießen.
Wird es das Feuer der Liebe sein?
Moon hält die Streichhölzer in der Hand.
Und wartet.
18.
I m ersten Stock des Finnigan’s Wake hatte sich eine furchteinflößende Menge versammelt. Wenn sich fast fünfzig Polizisten in einem Raum aufhalten, ist die Voraussetzung für ein Chaos gegeben. Das Finnigan’s Wake war eine ehrwürdige Institution an der Ecke Dritte und Spring Garden Street, ein bekannter Irish Pub, der Officer aus allen Revieren und sämtlichen Stadtteilen anzog. Wenn jemand vom Philadelphia Police Departement in den Ruhestand ging, waren die Aussichten groß, dass die Abschiedsparty im Finnigan’s Wake stattfand. Genauso wie die Hochzeitsempfänge. Die Büffets im Finnigan’s Wake waren nicht schlechter als anderswo in der Stadt.
Heute Abend fand ein Fest zu Ehren von Detective Walter Brigham statt, der sich aus dem aktiven Dienst verabschiedete – nach fast vier Jahrzehnten bei der Polizei.
Jessica nippte von ihrem Bier und schaute sich in der Kneipe um. Sie war seit zehn Jahren bei der Polizei und die Tochter eines der berühmtesten Detectives der letzten drei Jahrzehnte. Daher wirkte das Gemurmel von Dutzenden Cops, die sich in verräucherten Kneipen Anekdoten aus ihrem Berufsleben erzählten, einschläfernd auf sie. Jessica akzeptierte immer mehr die Tatsache, dass ihre Freunde zugleich Kollegen waren und es wohl auch immer sein würden.
Sicher, sie sprach auch noch mit ihren Klassenkameradinnen von der Nazarene Academy, dem größten katholischen Schulkomplex in Philadelphia, und manchmal mit einem der Mädchen aus ihrem ehemaligen Wohnviertel in South Philly – zumindest mit denen, die wie sie selbst in den Nordosten gezogen waren. Doch größtenteils trugen die Leute, auf die Jessica sich verlassen konnte, eine Waffe und eine Dienstmarke, darunter ihr eigener Ehemann.
Obwohl heute ein Fest für einen Kollegen stattfand, gab es keine Geschlossenheit unter den Feiernden. Überall standen kleine Grüppchen, die sich unterhielten. Eine größere Gruppe Detectives mit goldenen Dienstmarken stach besonders hervor. Jessica hatte zwar längst ihre Bewährungsprobe bestanden; dennoch gehörte sie noch nicht zu hundert Prozent dazu. Wie überall in großen Unternehmen oder Ämtern gab es Cliquenbildung, kleine Grüppchen, die sich aus verschiedenen Gründen zusammengeschlossen hatten: Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Dienstjahre, Abteilung, Wohngegend.
Die Detectives hatten sich am Ende der Theke versammelt.
Byrne erschien um kurz nach neun. Er kannte zwar fast jeden Detective in der Kneipe und war mit der Hälfte von ihnen die Karriereleiter hinaufgestiegen; dennoch beschloss er, sich zu Jessica an das Ende der Theke zu stellen. Sie freute sich darüber, spürte jedoch, dass Byrne sich lieber zu dem Rudel junger und alter Wölfe gesellt hätte.
Um Mitternacht begann auf Walt Brighams Feier die Phase des sinnlosen Betrinkens. Und das bedeutete, dass jetzt auch die Phase des
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