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Cabo De Gata

Cabo De Gata

Titel: Cabo De Gata Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge
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meine Erinnerung, wippte er mit dem Fuß des überschlagenen Beins, und die Troddeln seines lächerlichen, kaum zum Gehen geeigneten Schuhs umsprangen einander wie junge Dackel.
    Das war, glaube ich, der Moment, da mir der Gedanke kam, diese Stadt (dieses Land, dieses Leben) bis auf weiteres zu verlassen.

2
    Ich erinnere mich an den sonnigen, aber schon kühlen Herbsttag, an dem ich zum Briefkasten ging. Ich ging wie fremdgesteuert und, meiner Erinnerung zufolge, mit einem Gefühl, als wäre ich nach langer Krankheit zum ersten Mal wieder auf der Straße.
    Ich erinnere mich daran, wie der Brief im Kasten verschwand: an das kurze Quietschen der Klappe. Ich erinnere mich, dass ich nach dem Einwurf des Briefes nicht wieder nach Hause, sondern weiter die Gleimstraße entlangging, vorbei am Falkplatz in Richtung Tunnel. Der Ahorn (war es Ahorn?) am Falkplatz verfärbte sich schon, der Weg führte leicht bergab, und möglicherweise war es dieses Bergab-Gehen , das mich an eine andere, inzwischen einige Jahre zurückliegende Kündigung erinnerte. Damals war es nicht die Wohnung gewesen, die ich gekündigt hatte, sondern die Arbeit, eine gutbezahlte und natürlich feste Stelle am Institut für Chemietechnik, das nach der Wende sogar bestehen blieb. Das Institut lag auf einer kleinen Anhöhe, dem Ravensberg, und während ich jetzt am Falkplatz vorbei in Richtung Gleimtunnel ging, dachte ich daran, wie ich damals, nach einem abschließenden Gespräch mit dem Kaderleiter, den langen Fußweg vom Ravensberg hinab in die Stadt gegangen war. Auch damals war es Herbst gewesen, die Sonne schien, große, lederne Blätter raschelten unter meinen Füßen, und das Wort bergab spukte in meinem Kopf herum wie eine Prophezeiung.
    Als Nächstes kündigte ich den Energieversorger und die Telekom. Ich erinnere mich an langwierige telefonische Auseinandersetzungen, bevor einer meiner ständig wechselnden Gesprächspartner einsah, dass ich nicht im Besitz der eigenen Sterbeurkunde sein konnte. Diese Winzigkeit könnte der Auslöser gewesen sein. Ich begann, meine noch immer nicht ausgepackten Umzugskartons nach weiteren Verträgen und Versicherungspolicen zu durchsuchen, und obwohl die Ausbeute nicht sonderlich groß gewesen sein dürfte, fand ich mich doch erstaunlich tief verstrickt in das Ganze (in die Gesellschaft, das System), und je schwieriger und umständlicher es im Folgenden wurde, sich aus dieser Verstrickung zu befreien, desto stärker wurde mein Drang danach, bis mich eine regelrechte Kündigungs manie befiel. Ich weiß nicht mehr, was ich im Einzelnen kündigte, aber ich kündigte alles . Es gelang mir sogar, mich von der gesetzlichen Krankenversicherung zu befreien (mit dem Argument, dass ich mich für unbestimmte Zeit im Ausland aufhielte), aber als ich zu guter Letzt noch zum Einwohnermeldeamt ging, wo ich, seltsam genug, eine Bescheinigung meines Vermieters vorlegen musste, um mich abmelden zu dürfen, stellte sich heraus, dass eine Abmeldung nur möglich war, wenn ich meinen künftigen Wohnsitz in das Abmeldeformular eintrug.
    Ich erinnere mich nicht mehr an das Gesicht der Frau. Ich erinnere mich nur daran, dass sie blond war (gefärbt). Und ich erinnere mich an die tantenhafte Herablassung in ihrem Ton, als sie sagte:
    Sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen.
    Ich erinnere mich an den Anflug von Übelkeit, als die ersten Schokoladenweihnachtsmänner in den Schaufenstern auftauchten und ich noch immer nicht wusste, wo ich hinwollte. Ich erinnere mich an die schneelose Dunkelheit auf den Straßen, an den Bonbonpapierglanz der Einkaufspassagen, an die Gesichter der jungen Frauen, die mir im weißen Kunstlicht abweisender vorkamen als je zuvor. Auch an den plötzlich überall in den Geschäften hängenden Adventsstern erinnere ich mich, und obwohl ich kein Christ bin, empfand ich es plötzlich als unerträglich , dass dieses Symbol auf so schamlose Weise verwendet wurde; es verwunderte mich sogar, dass das in diesem (angeblich christlichen) Land erlaubt war. Voller Groll ging ich zwischen all den Kaufenden und Verkaufenden um und fühlte mich aufs gründlichste in meinen Fluchtplänen bestätigt.
    Aber es gab auch solche Momente: später Nachmittag, die einzige Stunde, in der meine Wohnung Sonne bekam. Das Licht ist himbeerrot, die Luft scheint damit angedickt, ich trinke sie wie Sirup, während ich barfuß auf dem alten Dielenfußboden durch meine beiden Zimmer wandle; die kleine Pendeluhr, die ich von meiner Mutter geerbt

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