Canale Mortale (German Edition)
schien seine Miene zu sagen. Antonia wusste, wie
wichtig ihm seine Unabhängigkeit war, und beschwichtigte ihn.
»Essen müssen wir ja schließlich und Janas Mutter begrüßen auch.
Dann haben wir es hinter uns«, flüsterte sie ihm zu, während Jana mit Mühe das
Schloss des schmiedeeisernen Tores öffnete.
»Passt auf, dass ihr nicht stolpert. Hier ist alles marode. Mein
Großvater lässt nichts in Ordnung bringen, den interessieren nur seine Bilder.«
Antonia sah an der Fassade des Palazzos hoch. Die Mauern waren
tatsächlich von tiefen Rissen durchzogen. An manchen Stellen hatten sich Teile
des Verputzes abgelöst und waren abgefallen. Darunter waren Ziegel zu sehen,
die von der Feuchtigkeit einen weißen Ausschlag bekommen hatten. Die Teile des
Putzes, die hängen geblieben waren, sahen aus wie übergroße Schorfstücke, die
sich an den Wunden des Hauses gebildet hatten. Zeit und Witterung hatten der
Fassade eine Struktur verliehen, die auf Zufall und nicht auf menschlicher
Absicht beruhte, und die verblichenen Farben gaben dem Haus eine vornehm
entrückte Aura.
Jana führte sie durch das rostige Gittertor in das Andron, die
Eingangshalle auf Kanalebene. Kühle und Feuchtigkeit schlugen ihnen entgegen.
»Wow!« Antonia war hingerissen. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie
den Palast nur einmal durch den Haupteingang von der Gasse aus betreten. Dieser
Bereich war ihr neu. Der Fußboden war mit großen gelblichen Marmorplatten
gefliest, in deren Vertiefungen und Schrunden kleine Wasserpfützen standen.
Jana hatte ihnen während der Fahrt erzählt, dass das Hochwasser seit Jahren
stärker in die Halle dringe und es jedes Frühjahr länger brauche, bis der Boden
wieder trocken sei. Ein intensiv modriger Geruch durchzog den Raum. In einer
hinteren Ecke lag eine alte Gondel kieloben, und an den Wänden hingen
metergroße rostige Halter, in denen abgebrannte Talgfackeln steckten.
Spinnwebschleier schwebten wie Reste zarter Vorhänge zwischen den Eisen. Jana
erklärte ihnen, dass hier ursprünglich Waren gelagert worden waren, man die
Fackeln jedoch auch bei großen Festen zur Begrüßung der Gäste entzündet hatte.
Jetzt, am späten Nachmittag, tanzten Lichtreflexe, die das Wasser des Kanals in
die Halle spiegelte, über Wände und Decke.
»Wie romantisch!«, rief Antonia aus.
Jana schloss eine Gittertür zu einem Treppenaufgang auf und dämpfte
ihre Begeisterung. »Wenn unsere vierbeinigen Kanalbewohner hier herumflitzen,
ist es weniger romantisch.«
»Ratten?«, fragte Florian besorgt, aber Antonia ließ sich nicht
beirren.
»Hier muss ich später unbedingt fotografieren.«
Eine marmorne Wendeltreppe führte über ein Zwischengeschoss in den
ersten Stock des Hauses. Janas Mutter, Octavia Bayer, kam ihnen im Flur
entgegen und begrüßte sie. Sie wirkte ernst, aber keinesfalls unsympathisch.
Ihr blondes Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war, hatte sie am
Hinterkopf fest um einen Kamm eingeschlagen, was ihr etwas Strenges verlieh.
Das dunkelgraue Kostüm und die hochgeschlossene weiße Bluse unterstrichen
diesen Eindruck. Sie erinnerte Antonia, die Hitchcock verehrte, an eine ältere
Ausgabe von Tippi Hedren in »Die Vögel«. Neben ihr stand Janas vierzehnjähriger
Bruder Ugo, ein schlaksiger Junge mit Sommersprossen und kupferrotem Haar. Er
streckte ihnen lässig die Hand entgegen und machte eine Verbeugung.
»Endlich kommt mal ein bisschen Leben in die Bude!«
Jana nickte. »Mein Brüderchen hat nur Frauen um sich herum. Er hat
deshalb schon die ganze Zeit nach dir gefragt, Florian. Ja, Florian mag
Fußball, Ugo, ich kann dich beruhigen!«
Ugo strahlte. »Sie müssen mir alles erzählen, was macht St. Pauli?
Sind die jetzt –«
Seine Mutter unterbrach ihn: »Ugo, zeig den Gästen bitte die
Wohnung. Ich schlage vor, Sie machen sich kurz frisch und kommen dann gleich
zum Essen.«
Ugo nahm Antonias Koffer und stieg vor ihnen eine breite Treppe mit
ausgetretenen Marmorstufen nach oben. Im nächsten Stockwerk hielt er vor einer
Tür aus Mahagoniholz inne.
»Dahinter befindet sich Großpapas Heiligtum: der Saal mit seiner
Sammlung. Kaum jemand darf ihn betreten. Nicht dass ich mich danach sehnen
würde, aber für Sie sind seine Bilder vielleicht interessant.«
Antonia wollte ihn fragen, ob sie schon jetzt einen Blick in den
Saal werfen dürfe, aber Ugo war schon weiter nach oben gestiegen.
»Sie wohnen noch ein Stockwerk höher. Mein Großvater hat einen Teil
des Dachbodens ausbauen lassen.
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