Canale Mortale (German Edition)
Stunden später verließen Antonia und Florian erwartungsfroh den
Flughafen Marco Polo und gingen zur Bootsanlegestelle an der Lagune, wo Jana
sie in Empfang nahm. Antonia hatte mit Jana Bayer zusammen in Hamburg studiert.
Sie waren während dieser Zeit häufig gemeinsam zu Ausstellungen und Konzerten
oder ins Kino gegangen. Ihr Verhältnis war in erster Linie von diesen
gemeinsamen Interessen geprägt. Sie mochten sich, aber eine wirklich herzliche
oder vertrauensvolle Freundschaft war nie zwischen ihnen entstanden. Jana hatte
vor drei Jahren ihren deutschen Vater verloren und war dann mit ihrer
italienischen Mutter und ihrem jüngeren Bruder Ugo nach Venedig in das Haus
ihres Großvaters, Conte Falieri, gezogen. Jetzt arbeitete sie als Assistentin
am Kunsthistorischen Institut der Universität Ca’ Foscari und promovierte über
Tizian. Jana war klein, dunkelhaarig und fast mädchenhaft zierlich, dabei
jedoch sehr energisch. Sie war allein im Boot der Familie über die Lagune
gekommen.
»Tagsüber ist das sehr schön. Im Dunkeln traue ich mich allerdings
nicht, die Strecke zu fahren«, erklärte sie. Sie half Antonia und Florian, ihr
Gepäck in der kleinen Kajüte zu verstauen, und bat sie, rechts und links vom
Steuer Platz zu nehmen. Als sie gerade das Bootstau einholen wollte, zögerte
sie, dann winkte sie jemandem zu.
»Don Orione! Hallo, Padre! Das Boot der Alilaguna ist gerade
abgefahren. Wollen Sie mit uns kommen?«
Antonia drehte sich um und erkannte den Priester aus dem Flugzeug.
Don Orione schien erleichtert, dass er keine lange Wartezeit auf sich nehmen
musste. Ächzend stieg er ins Boot hinunter und setzte seinen Koffer ab.
»Dio mio. Die Sonne ist hier doch schon sehr stark. In Köln hatten
wir ja fast noch Winter.«
Schweiß perlte auf seiner Stirn, und er quetschte sich seufzend
zwischen Rettungsringe und Taue auf eine Seitenbank des Bootes. Jana stellte
ihm ihre deutschen Freunde vor und schob seinen Koffer zu dem übrigen Gepäck in
die Kajüte. Seine Aktentasche hielt der Geistliche mit beiden Händen vor sich
auf dem Schoß, und Antonia sah, dass aus der vorderen Tasche die Bordzeitung
hervorlugte.
Unterwegs erzählte Don Orione von der Konferenz, die er in Köln
besucht hatte. »Soziale Projekte in der Gemeindearbeit« war das Thema gewesen,
und Don Orione, nach dessen Namensvetter man in Venedig ein Kulturzentrum
benannt hatte, weil er mittellose junge Männer ein Handwerk lernen ließ, war
als Referent eingeladen worden.
»Wenn der Staat immer weniger für die Armen tut, ist die Kirche
wieder stärker gefragt. Dabei wird meine Hauptaufgabe darin bestehen, Spenden
aufzutreiben …«, führte er aus. Wieder wischte er sich mit einem altmodischen
Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn.
Die Maisonne schien kräftig, und alle genossen den erfrischenden
Wind, als das Boot die Fahrt über das flache Gewässer der Lagune aufnahm.
Antonia setzte ihre Sonnenbrille auf, beugte sich tief über den Bootsrand und
hielt spielerisch die Hand ins Wasser. Nach einer Weile tauchte Murano vor
ihnen auf. Sie passierten den Kanal der Insel und sahen rechts die Kathedrale
Santi Maria e Donato liegen. Antonia war hingerissen von dem sanften Ziegelrot,
dem Weiß der Säulen und der zierlichen Galerie. Don Orione, den Antonias
Begeisterung offenbar freute, erklärte ihr – begleitet von ausladender Gestik
und in gutem Deutsch –, dass Teile der Basilika zu den ältesten Sakralbauten
der Lagune gehörten. Sie müsse sich unbedingt das Fußbodenmosaik und die
Darstellung Marias in der Apsis ansehen. Antonia hätte am liebsten sofort einen
Zwischenstopp eingelegt, traute sich aber nicht, Jana zu fragen, die mit
konzentrierter Miene das Boot durch den engen Kanal steuerte.
»Und dann müssen Sie natürlich auch nach Torcello«, fuhr Don Orione
fort. »Das dürfen Sie nicht verpassen, Torcello ist die Wiege Venedigs, ein
wunderbarer, ja ein magischer Ort …«
Antonia hatte viel über die Insel gelesen und beteuerte, dass sie
ganz gewiss einen Ausflug dorthin machen werde.
»In der Kathedrale von Torcello lohnt es sich, das ›Jüngste Gericht‹
anzusehen. Die Künstler haben in ihrer Weitsicht viel Gewicht auf die Hölle
gelegt, mehr jedenfalls als auf das Paradies. Und versäumen Sie nicht, auf den
Turm der Kathedrale zu steigen. Sehen Sie ihn dort hinten am Horizont?«
Antonia blickte in die Richtung, in die der Priester wies. Im fernen
Dunst erkannte sie tatsächlich die Umrisse eines Turms, der
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