Canale Mortale (German Edition)
Zuerst wollte er dort weitere Bilder lagern,
aber dann hat meine Mutter ihn überzeugen können, dass wir eine Gästewohnung
brauchen.«
Von oben fiel helles Licht durch ein breites Atelierfenster auf den
Treppenabsatz. Ugo ging auf eine Tür zu und schloss auf. Mit der freien Hand
wies er auf eine zweite Tür am Ende des langen Flurs, wo das helle Licht des
Fensters nicht mehr hinreichte.
»Dort hinten geht es zum Boden. Er ist riesig und zieht sich von
hier ab über den ganzen Palast. Als ich kleiner war, habe ich dort in den
Ferien gern gespielt. Er wird heute kaum noch benutzt.«
Er schloss die Tür zur Gästewohnung auf. Das Apartment machte einen
einladenden Eindruck. Jemand hatte ihnen zur Begrüßung eine Schale mit Obst und
Blumen auf den Küchentisch gestellt, und es gab einen gemütlichen Wohnraum mit
einem hellen Sofa. Aus dem Fenster konnte man das Eingangsportal von Don
Oriones Kirche sehen. Antonia warf einen Blick in das Schlafzimmer, in dem die
Fensterläden noch geschlossen waren. Ugo ließ ihnen jedoch keine Zeit, sich
länger umzusehen. Er stellte Antonias Koffer ab und drängte sie, wieder mit ihm
nach unten zu kommen.
»Mama mag es nicht, wenn man nicht rechtzeitig zum Essen erscheint.«
Als sie das Speisezimmer betraten, stellte Octavia sie einer
älteren Frau vor, die gerade eine Schüssel mit dampfender Polenta in der Mitte
des Tischs absetzte.
»Giovanna, das sind unsere Freunde aus Deutschland, Antonia und
Florian. Giovanna ist unsere Köchin, sie hat eine Zeit lang mit uns in Hamburg
gelebt und versteht etwas Deutsch.«
Giovanna drehte sich um und wünschte freundlich Guten Abend. Sie
musste Mitte sechzig sein, hatte ein rundliches, gutmütiges Gesicht und kurz
geschnittenes graues Haar.
»Giovanna ist die Seele des Hauses, ohne sie wären wir verloren.«
Jana legte der Köchin einen Arm um die Schulter, aber die Frau in der weißen
Schürze winkte bescheiden ab.
»Ich habe Ihnen etwas Venezianisches gekocht, ich hoffe, Sie sind
keine Vegetarier. Bei jungen Leuten weiß man ja nie.«
Es gab geschmorte Leber mit Zwiebeln und Polenta, zum Dessert einen
Limoncello und etwas Gebäck. Das Tischgespräch war lebhaft und drehte sich in
erster Linie um Hamburg, das Octavia mit ihrer Familie nach dem Tod ihres
Mannes verlassen hatte. Bevor sie die Tafel aufhob, brachte sie die Sprache auf
ihren Vater.
»Mein Vater ist momentan bei seiner Schwester in Lugano und wird
erst Ende der Woche zurück nach Venedig kommen. Es geht ihm gesundheitlich
nicht gut, deshalb ist er die meiste Zeit in der Schweiz.«
Giovanna räumte gerade die Dessertteller ab und ergriff das Wort:
»Ich glaube, der Conte wird uns alle überleben. Er hat immer noch einen sehr
kräftigen Appetit. Neulich musste ich ihm eine große Portion Bigoli kochen, und
danach hat er tatsächlich die restliche Polenta vom Vorabend verlangt und nach
einer doppelten Portion Himbeereis aus der Gelateria geschickt …«
Octavia beeilte sich, Giovannas Redefluss zu stoppen, indem sie ihre
Serviette zusammenfaltete und sich erhob. »Den Kaffee trinken wir nebenan,
Giovanna.«
Die Köchin machte ein verdrossenes Gesicht. Offenbar war der Appetit
ihres Dienstherrn ein Thema, das sie gerne ausführlicher behandelt hätte. Laut
klappernd stellte sie die Dessertteller zusammen und verließ wortlos das
Speisezimmer.
Alle folgten Octavia in den Salon, dessen Fenster auf einen
verwunschenen Garten gingen. Eine Reihe von Sesseln, bezogen mit verschossenem
violetten Samt, gruppierte sich um einen Kamin aus hellgrauem Marmor. Am
mittleren der drei Fenster stand ein Flügel. Florian bat Octavia um Erlaubnis
und blätterte interessiert in den Noten. Giovanna brachte eine Kanne mit frisch
gebrühtem Espresso, den sie – noch dampfend – in die Tassen goss.
Antonia ließ sich in ihren Sessel sinken und stieß einen leisen
Seufzer des Wohlbehagens aus. Auch Florian hatte sich während des Essens
entspannt. Octavia erkundigte sich bei ihm nach aktuellen deutschen
Theateraufführungen und Kinofilmen, die sie hier zu vermissen schien, und
Florian wurde zu Antonias Erstaunen immer gesprächiger.
Es stellte sich heraus, dass Octavia sich gut in der Orgelliteratur
auskannte und Bach liebte. Florian unterhielt sich immer intensiver mit ihr;
Antonia nutzte die Gelegenheit und fragte die Geschwister nach Tipps für
Spaziergänge und Ausflüge. Während Jana und Ugo lebhaft mit ihr plauderten,
konnte Antonia sehen, dass ihre Gastgeberin angespannt auf der
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