Canale Mortale (German Edition)
1
Jemand drückte sie immer wieder unter Wasser. Antonia
wehrte sich verzweifelt, schlug um sich und krallte sich am Arm ihres Gegners
fest. Nase, Ohren und Mund füllten sich mit Salzwasser. Ein scharfer Schmerz im
Handgelenk, und sie musste den Arm loslassen. Eine graue Welle schlug über ihr
zusammen. Sie schnappte nach Luft, tauchte wieder auf und wollte um Hilfe
schreien. Aus ihrem Mund kam jedoch nur ein hilfloses Gurgeln. Der Kerl stieß
sie jetzt so heftig hinunter, dass ihr Kopf gegen die Bordwand prallte. Dann
ein dumpfer Stoß in den Rücken. Er versuchte offenbar, sie mit einem Ruder
unter Wasser zu halten, indem er wütend auf sie eindrosch. Salz brannte in
ihren Augen, ihrem Rachen und in der Nase, und sie spürte, wie ihr Bewusstsein
schwand. Atmen war nicht mehr möglich. Sie stemmte ihre Beine gegen den Rumpf
des Bootes und tauchte mit letzter Kraft nach unten, tauchte tiefer, während
der Mann oben weiter mit dem Ruder nach ihr schlug.
Sie müsste nur ganz tief tauchen, bis auf den Grund der Lagune,
dorthin würde er ihr nicht folgen können. Unten angekommen lag sie still auf
dem Rücken, in einem wogenden Feld aus Algen und Seegras. Sie brauchte nicht
mehr zu atmen. Über sich, an der Oberfläche, sah sie den dunklen Umriss des
Bootes. Der Mann schien aufgegeben zu haben.
Das Brennen in den Augen und im Schlund hörte auf, der weiche Sand
umfing sie, und sie spürte, wie die Wärme der Sonne durch das Wasser bis zu ihr
herunterdrang. Eine Wolke aus winzigen Fischen zog über sie hinweg, die kleinen
Leiber schimmerten silbern im Sonnenlicht. Zwei Seepferdchen tanzten in
Spiralen über ihr nach oben, während eine Languste neugierig mit ihren Fühlern
nach ihrer Hand tastete. Sie hätte ewig so liegen bleiben können. Aus dem
Hintergrund tauchte jetzt ein riesiger Krake auf. Antonia drehte den Kopf in
seine Richtung und sah, wie er langsam näher kam und größer wurde. Heftig stieß
sie das Ungetüm zur Seite. Dabei schleuderte sie ihr Kopfkissen auf den
Fußboden, und statt auf dem Meeresboden lag sie allein auf der rechten Seite
ihres breiten Bettes. Florian hatte diesmal bei sich übernachtet.
Benommen setzte sie sich auf und sann ihrem Traum nach. Alles hatte
so schön angefangen. Sie waren in Venedig und machten einen Ausflug mit dem
Boot über die Lagune. Plötzlich war Florian verschwunden, und sie war allein an
Deck. Sie wollte nach vorne gehen, um nachzuschauen, warum niemand am Steuerrad
stand. Dann war dieser Mann ohne Gesicht aufgetaucht, hatte sich ihr in den Weg
gestellt, sie in einer unverständlichen Sprache beschimpft und über Bord
gestoßen. Seltsam. Dabei hatte sie sich so gefreut, als Florian ihr am Telefon
von seiner Einladung nach Venedig erzählt hatte. Sie war fest entschlossen, ihn
zu begleiten. Etwas später unter der Dusche hatte sie den Alptraum schon
vergessen.
Florian kam abends vorbei und präsentierte ihr strahlend die
Einladung. Antonia machte es sich auf ihrem Sofa bequem und las den Brief aus
Italien, in dem es hieß, dass ihr Freund in Venedig vier Wochen an einer
Meisterklasse für Orgel teilnehmen und am Ende des Kurses mit den anderen
Stipendiaten ein Konzert geben solle. Sie las den Text zweimal, ließ das Schreiben
sinken und lächelte beglückt.
»Hättest du gedacht, dass wir so schnell wieder nach Venedig
kommen?«
Florian tat überrascht. »Kommst du denn mit?«
»Hey, werd bloß nicht frech! Wem hast du das denn zu verdanken?
Natürlich komme ich mit. Ich wohne bei Jana, und du kannst sehen, wo du
bleibst.«
Sie hatten erst vor einem halben Jahr einen gemeinsamen Urlaub in
Venedig verbracht. Für Antonia war es der erste Besuch gewesen, und sie hatte
sich – wie so viele vor ihr – heftig in die Stadt verliebt. Ihre Freundin Jana,
die dort lebte, hatte sie beide in dieser einen Woche mit Leuten aus der
Kunstszene zusammengebracht und für Florian den Kontakt zum Conservatorio
Benedetto Marcello hergestellt.
Florian machte eine scheinheilige Miene. »Aber was willst du denn
allein machen, so ohne mich, wenn ich den ganzen Tag Proben habe?«
»Was wohl? Jana wird mich durch sämtliche Kirchen und Museen der
Stadt schleppen, und danach sitze ich am Campo San Stefano vor einem Prosecco
und warte auf den Mann meines Lebens!«
Florian setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. »Den hast du
doch schon gefunden. Du solltest dich dort vor allem von deiner Arbeit
erholen.«
Antonia lehnte sich zurück und sah zum Fenster hinaus. Draußen
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