Capitol
selbst, dem jede Hoffnung auf einen Sinn des Lebens geschwunden war.
»Und warum sollte ich dann noch weiterleben?« fragte er.
»Weil dein Tod«, sagte die Stimme »noch weniger bewirken würde als dein Leben.«
Und weil Stipock diese völlige Verzweiflung nicht ertragen konnte, rief er trotzig: »Wer bist du denn, daß du beurteilen kannst, was sinnvoll ist und was nicht? Die Menschen wollten nicht mehr auf dich hören, und jetzt willst du sie vernichten! Ein Gott, den nur die Unwissenden und Schwachen anbeten können, muß die Menschen unwissend und schwach halten, damit er sie beherrscht!«
Dann war Schweigen. Die lärmende Stille ließ Stipock taumeln. Ich bin wahnsinnig, dachte er. Ich bin so verrückt geworden, wie Amblick war, als er in seiner Todesstunde vergebens nach dem Sinn des Lebens suchte und seine Prophezeiungen hinausschrie.
Und als er sich gerade eingeredet hatte, daß die Stimme nur eine Sinnestäuschung war, hörte er sie wieder. Diesmal sprach sie nicht mit der Wut Amblicks, als er die Prophezeiungen hinausbrüllte, sondern mit der Stimme seiner Mutter, leise, wie damals, als er noch klein war.
»Garol«, sagte die Stimme, die ihn liebte, »Garol, ich zeige den Menschen nur den Weg zum Glück. Ist es meine Schuld, daß sie höhere Einsicht und besseres Wissen nur dazu verwenden, sich selbst zu zerstören?«
»Nein«, antwortete er.
»Garol, mein Sohn, mein Kind, mein kleiner Junge, du mußt mir vertrauen. Es liegt in meinen Händen. Vertraue mir. Vertraue mir.« Und Garol stieg ins Bett, und mit diesem vertraue mir im Kopf schlief er ein.
*
Morgens wachte er auf und erinnerte sich an die Erlebnisse der vergangenen Nacht. Er lachte und schalt sich einen Narren. Die Kirche der Unsterblichen Stimme hatte er als Programm noch im Computer. Er löschte das Programm mit einem Gefühl der Trauer um seine Eltern, die zu ihrer Religion zurückgekehrt waren und in den Kolonien den sicheren Tod gesucht hatten. Und doch wußte er, wie das geschehen war. Selbst gestern abend, als er sich die Stimme eingebildet hatte, war ihm klar gewesen, daß er alles im Kopf hatte. Aber Einbildungen können sehr überzeugend sein – überzeugender als die Wirklichkeit. Kein Wunder, daß seine Eltern sich zum Narren halten ließen. In der Kindheit eingetrichterte Religion läßt einen nie los. Bei all seiner Klugheit und bei all seinem Verständnis für die Wissenschaft, bei all seiner Selbstbeherrschung blieb er doch der kleine Junge, der zu viele Predigten gehört und an zu viele Lügen geglaubt hatte.
Er vergaß die Ereignisse jener Nacht. Aber sie wirkten nach. Denn nun interessierte er sich nicht mehr sehr für die geplante Revolution; der Gedanke, an den sinnlosen und nicht enden wollenden Treffen der Verschwörer teilzunehmen, langweilte ihn. Er blieb ihnen fern. Er konzentrierte sich wieder auf Physik. Und wenn er auch nicht das Gefühl hatte, sehr viel zu leisten, so hatte er wenigstens seine Freude daran.
Mutters kleine Knaben fanden ihn; als er sich am Computer gerade mit der Lösung eines Problems beschäftigte. Sie stürmten herein, um ihn zu verhaften.
»Mich verhaften? Weshalb?« fragte er.
»Weshalb?« fragte der Anführer der kleinen Knaben. »Natürlich wegen Verrats.«
Stipock sah sie erstaunt an. »Aber meine Herren, was die Revolution anbetrifft, habe ich es mir anders überlegt. Ich habe damit nichts mehr zu tun …«
Die kleinen Knaben sahen einander verblüfft an. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. »Er hat es sich anders überlegt«, sagten sie, als sie ihn abführten. »Er hat nichts mehr damit zu tun!« Es war einfach lustig.
Als sie lachten, wußte Garol, daß es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Wenn er Glück hatte, würden sie ihn deportieren. Warum hatte er sich nicht schon früher von den Verschwörern distanziert? Warum hatte er so lange geglaubt, daß man etwas erreichen konnte?
»Warum, Gott, hast du es mir nicht früher gesagt?« fragte er ironisch. Aber heute war er nicht müde. Gottes einzige Antwort war deshalb ein schauriges Lachen in seinem eigenen Kopf. Garol verstand das Witzige daran nicht, aber er lachte trotzdem. Was immer die Pointe wäre, wenn er sie endlich verstünde, gut mußte sie sein. Gibt es bessere Witzeerzähler als Gott?
Die Sterne verlöschen
Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausvater wüßte, welche Stunde der Dieb kommen wollte; so würde er ja wachen und nicht in sein Haus brechen lassen.
Darum seit ihr auch
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