Caras Gabe
„Ich beginne zu ahnen, weshalb Lurian dich verlassen wollte.“
Marmons Kopf fuhr zu mir herum. „Verstehen wirst du es nie“, zischte er und kicherte.
Ich betrachtete ihn, wie er zwischen seinen Glaskugeln umherwanderte und hier in die eine, dort in die andere blickte, das Gesicht in höchster Verzückung und Konzentration verzogen.
„Sieh hier.“ Unvermittelt blieb er vor einer niedrigen Kugel stehen und legte eine Hand darüber. Bei seiner Berührung flackerte die Glaskugel auf. Ich sah Flammen darin und eine schwarze Ebene.
„Der Kampf hat begonnen“, säuselte Marmon. „Von künstlichen Feuern erhellt rennen sie gegen meine Priester und Fürsten an. Ich habe auch einige Lichtträger zu ihrer Unterstützung geschickt. Sieh doch, tritt näher.“
Und wie von einer fremden Hand geführt, tat ich genau das und beugte mich über die Kugel.
Es sah aus, als würde ich hoch über ihnen schweben, hoch oben zwischen den Wolken, während unter mir eine grausame Schlacht tobte. Bewaffnete Menschen stürzten aufeinander zu, hackten sich nieder, versanken in Schlamm und Blut, dass es unmöglich war, Freund von Feind zu unterscheiden. Eine Schar spärlich bewaffneter Bauern wurden von berittenen Soldaten niedergetrampelt. Ich sah ihre besudelten, angstverzerrten Gesichter, beobachtete, wie sie ihre Münder zu grässlichen Schreien aufsperrten.
Weit hinter ihnen schwebten die Flaggen der Fürsten im Nachtwind. Starken und Randowin hatten auf der gesamten Ebene Feuerkegel errichten lassen und nun wirkten die Ebenen vor Wulfrins Tor wie der Vorhof der Hölle.
Ich erblickte Starken und einen anderen Fürsten, die sich Rücken an Rücken gegen eine Übermacht berittener Priester verteidigten, erkannte Randowin, der Befehle brüllend einen Pfad durch die Körper der Pferde und Priester zu ihnen freischlug.
Die Stadt selbst wurde von Lichtträgern belagert. Gnadenlos schnitten sie durch die Soldaten, erklommen die steilen Verteidigungsmauern wie Insekten und brachten Tod und Verderben zu den fliehenden Bewohnern der Stadt. Doch ich sah auch Gegenwehr. Die erste Nacht schwächte Marmons Geschöpfe, ihre Flügel blieben nutzlos. Eine Gruppe Soldaten war es gelungen, einen Lichtträger in die Enge zu treiben. Auf ein Zeichen ergoss sich ein heißer Schwall aus Pech über die strahlende Gestalt und löschte sein Leuchten für immer aus.
Die Männer jubelten, doch kurz darauf stürmten zwei weitere Lichtträger heran und warfen sie über die Zinnen in den Hof darunter.
„Es ist so wunderbar, sie anzusehen, ihnen zuzuschauen, wie sie leben und leiden.“ Marmons Worte drangen wie von weit her an meine Ohren. „Am liebsten habe ich es, wenn sie leiden.“
Die Erkenntnis erschütterte mich. Mit aller Kraft riss ich meinen Blick von der Glaskugel los und richtete ihn auf ihren Erschaffer. „Es ist wahr“, flüsterte ich. „Du kannst diesen Berg nicht verlassen.“
Marmon hielt inne und sah auf. „Wie weise du bist“, keifte er bissig und fuhr fort in seinen Kugeln zu suchen. Das Bild der Schlacht erlosch, als er seine Hand von ihr nahm.
Unvermittelt machte ich einen Schritt auf das Glas zu.
„Ha!“, rief Marmon nach kurzer Zeit aus. Triumphierend hielt er eine matte Kugel hoch. „Hier ist sie.“
Unfähig zu begreifen starrte ich ihn an. „Aber … aber wie kann das sein? Ich bin dir begegnet. Im falschen Wald. Du warst dort. Wir haben gekämpft! Wie kannst du …“
Marmons Lachen ließ mich innehalten. „Mein liebes Kind“, sagte er schelmisch und rieb seine Hände aneinander. „Ich war niemals dort. Aber du“, er streckte einen langen Finger nach mir aus, „du warst bei mir. Hier in diesem Raum haben wir gestanden.“
Er wirbelte herum, streckte die Arme zum Himmel. Einen Herzschlag später schossen Bäume aus dem Boden. Ich atmete erschrocken ein und taumelte zurück. Faules Laub unter meinen Füßen, die kahlen Äste um mich herum und der Geruch von feuchtem Moos. Ich war im Wald, mit allen Sinnen. Ich hörte das Rauschen des Windes, spürte die Kühle der Luft auf meiner Haut und sah das Glitzern einzelner Tautropfen auf den Stämmen.
Ich hob den Kopf zum Himmel. Nichts als Schwärze begegnete meinem Blick. Nur hauchzart, kaum zu erahnen, schimmerte ein graues Band am Horizont. Die Dämmerung nahte. Die erste Nacht war fast vorüber.
Zu meiner Linken flimmerte etwas zwischen zwei Stämmen. Wie damals, als ich Marmon begegnet war. Ich fuhr herum, schlug mit dem Schwert nach einem der Bäume.
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