Acqua Mortale
TEIL I
1
Zornig starrte Aroldo auf seine Stiefel, die bei jedem Schritt im Matsch festklebten und sich nur quatschend, mit einem plötzlichen Ruck, befreien ließen. Achtzehn Kilometer hin, achtzehn Kilometer zurück, dazwischen eine schlaflose Nacht, eigentlich hätte er zu erschöpft sein müssen, um all die Wut und Enttäuschung zu spüren. Nicht einmal Fahrräder hatten sie benutzen dürfen, »zum Schutz der Operation«. Welcher Operation?, fragte er sich.
Sie hatten die Nacht, während ihre Mägen knurrten und die Nässe durch ihre geflickten Stiefel, durch Gamaschen, Hosen und Jacken kroch, am Rande eines frisch gepflügten Feldes gelegen, zwischen Krüppelweiden und Schafdung. Sie hatten in die Stille gehorcht und das Jucken in ihren Schamhaaren gespürt. Gegen vier hatte Aroldo eine Filzlaus erwischt und mit den Nägeln geknackt, um halb sechs hatten sie die Aktion abgebrochen. Da dämmerte es, und es war klar, die Amerikaner würden nicht mehr kommen.
Aroldo blieb stehen und schaute sich um. Es war längst Tag, in der Ferne bellte ein Hund, ein Reiher flog träge an einem Kanal auf, der pfeilförmige Kopf, der zerbrechliche Hals, man hörte den Schlag seiner schweren Schwingen. Weit und breit nur nasse, schwarze Felder, durch die sich schnurgerade die Bewässerungskanäle und Wege zogen. Auf Kilometer kein Versteck, keine Deckung. Nur Felder, Wiesen, Wege, so weit das Auge reichte. Hin und wieder ein Bauernhof, auf dem sich die Versorgungseinheiten der Deutschen eingenistet hatten und den Bauern die Haare vom Kopf fraßen. »Partisanen können nur im Gebirge überleben. In Höhlen und auf verlassenen Almen«, hatte der Brigadekommandeur gesagt. »DieBauern unterstützen uns.« – »Die Höfe sind fast alle besetzt.« – »Wenn die Deutschen in den Häusern hocken, dann wohnen wir eben im Heuschober«, hatte Aroldo trotzig erwidert. »Und wenn die Deutschen im Heuschober sind?« – »Dann quartieren wir uns im Stall ein.« Sie hatten es tatsächlich geschafft, in der Ebene einen Partisanenkrieg zu organisieren. Und mit den amerikanischen Maschinenpistolen, Panzerfäusten und Handgranaten wollten sie den Deutschen mit offenem Visier begegnen, beweisen, dass sie keine Wegelagerer und Kriminellen waren, sondern Krieger wie sie. Tapferer als sie. Sie wollten die Deutschen festsetzen, aufreiben. Noch bevor sie Ferrara, Aroldos Heimat, erreichten.
Doch kein Flugzeug war über die deutschen Linien geflogen. Die kleinen weißen Fallschirme mit den Holzkisten waren nicht vom Himmel geschwebt.
Was sollte er jetzt seinen Kameraden sagen?
Endlich war im Nebel das kleine Gehöft aufgetaucht. Am Wohnhaus konnte Aroldo das birnenförmige Loch im Dach und die sechs Fenster unterscheiden. Träge wand sich der Rauch aus dem Kamin, Fiocco, der Bastard, bellte aufgeregt. Niemand zu sehen. Offensichtlich saßen Aroldos Kameraden mit den Bauersleuten und ihrem halbwüchsigen Sohn zusammen. Teilten die Arbeiten ein: Die Schweine mussten versorgt, das kleine Wehr am Bewässerungskanal repariert werden. Die Partisanen halfen, wo es ging. Dafür bekamen sie ein Dach über dem Kopf und zu essen, jetzt, im April, nicht viel mehr als vertrocknete Fenchelknollen und Kartoffeln.
Aroldo wollte schon auf seinem Pfeifchen spielen, wollte Stefano, den vierzehnjährigen Sohn der Bauern, aus dem Haus locken, als ein Windhauch über die schmutzige Türschwelle fuhr und ein paar weiße Flocken aufwirbelte. Aroldos Herz schlug schneller. Das war kein Schnee. Das waren Flaumfedern. Und warum wurde um diese Zeit nicht auf den Feldern gearbeitet? Mit einem einzigen Blick hatte Aroldo das kleine Gebäudeensemble erfasst: Vor sich das Haus,links der kleine Schuppen, rechts der Stall. Jemand hatte ein Huhn gerupft. Sicher nicht die Bauersleute. Und erst recht kein Kamerad. Seit drei Monaten ertrugen sie ihr Gackern, aber wenn sie die Tiere zu lange anstarrten, dann erriet der Bauer ihre Gedanken und stieß wüste Beschimpfungen aus. Aroldo spürte, wie das Blut in den Schläfen pumpte, sein Atem sich beschleunigte. Abhauen. Aber das wäre verdächtig gewesen. Sicher wurde er schon beobachtet. Seine Waffe. Die musste er loswerden. Er öffnete den Hosenstall und ging, betont langsam, hinter den Schweinestall. Ein Ölfleck, Reifenspuren, dort hatte ein Krad mit Beiwagen gewendet. Aroldo zog sein Glied hervor und zielte mit dem Strahl auf den Abzugsgraben, in dem sich das Schmelzwasser gesammelt hatte. Wenn er die Pistole hineinwarf, würde man
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