Carpe Somnium (German Edition)
wickelte. Er konnte bloß zusehen, wie Mistletoes Schultern sich unter ihren Schluchzern hoben und senkten. Die Türöffnung schien sich vor lauter Vorfreude hungrig zu kräuseln.
»Schon okay«, sagte er. »Ich werd dich finden.«
Mistletoe schenkte ihm ein kaum merkliches Lächeln, dann verschwand sie durch die Tür. Wie ein fransiges blaues Komma hing ihr Zopf kurz in der Luft. Dann war auch er fort.
15
Töchter
Mistletoe wurde Unisons Augen. Eine alte Frau umarmte einen alten Mann, und zwei nasse Flecken erschienen auf seinem Hemd, dort wo es ihre Tränen aufgesogen hatte. Ein kleiner Junge jagte seinen brandneuen Scooter in einem Oberstadt-Park eine grasbewachsene Böschung hinab. Massen von beschwingt Feiernden in ESCU -Holoshirts stießen klirrend mit ihren Gläsern an.
Mistletoe wurde Unisons Ohren. Gedanken und Gesprächsfetzen aus Mikro-Blogs klimperten durch ihren Kopf wie Kleingeld. Sie erfuhr Milliarden belangloser Dinge wie Scheißtag! und Bin schon wieder spät dran dank ESC s spitzenmäßigem Verkehrskontrollsystem .
Mistletoe wurde Unisons Seele. Sie verging fast vor Neid auf Leute, die begabter waren als sie. Sie studierte hart, um sich ihre Träume zu erfüllen. Sie versagte. Sie triumphierte. Sie wollte immer mehr. Sie hasste ihre Eltern, Hausaufgaben, ihren Chef, ihre Kinder, ihre Nachbarn, sich selbst. Und zugleich liebte sie das alles.
Sie weinte.
LOL!
Sie versuchte zu schreien und stellte fest, dass Unison ihr die Stimme genommen hatte. Ihre Gedanken bewegten sich wie in Zeitlupe, so als befände sich ihr Gehirn unter Wasser. Sie pflügte und ruderte durch die zähflüssige, schwirrende Luft, die sie umgab. Schließlich schaffte sie es zurück zu der Türöffnung. Das Büro lag gleich auf der anderen Seite. Sie trat hinaus in normale, atembare Luft. Ihr Kopf klarte auf. Als Erstes bemerkte sie einen bestimmten Geruch, einen angenehmen, leisen Duft nach rauchigem Holz und Lack. Der Essiggestank der undichten Pflanze war verflogen. Es schien fast, als hätte Unison soeben entschieden, dass ein schickes Büro genau
so
zu riechen hatte.
Sie blinzelte die Überreste der Rohdaten weg und sah sich um. Tante Dita war ebenfalls verschwunden. Plötzlich hatte sie den Eindruck, dass Ambrose vielleicht recht gehabt hatte. Martin Truax war der Kopf von Unison, und es wäre nicht schwer für ihn gewesen, ein Abbild von Dita in dem Büro erscheinen zu lassen.
»Ambrose, lass uns –«
Dort, wo Ambrose gestanden hatte, stand nun ein Mädchen, das aussah wie Mistletoe.
Unsichtbarer Spiegel
, dachte sie.
Noch so ’n Trick.
Martin saß an seinem Schreibtisch und musterte sie erwartungsvoll.
»Willkommen«, sagte er. Irgendetwas an ihm war eigenartig, so als hätte er es in ihrer kurzen Abwesenheit fertiggebracht, ein Sonnenbad zu nehmen und an seinem gebräunten Gesicht und Hals ein wenig Speck anzusetzen. Auch die sandfarbenen Wellen seines Haars waren jetzt dunkler, schimmerten in einem kräftigen, jugendlich wirkenden Braun. Und das Blau seines Anzugs hatte sich zu einem hässlichen Aquamarin aufgehellt. Auf dem Becher auf seinem Schreibtisch stand
Führungskraft des Jahres
.
Noch verblüffender war allerdings Mistletoes Spiegelbild. Es trug ein elegantes Oberstadt-Outfit, einen geschäftsmäßigen Damenanzug mit einer schwarzen Bundfaltenhose und einer stahlgrauen Bluse. Aber da war noch etwas …
»Hi!«, sagte ihr Spiegelbild und streckte die Hand aus. »Ich bin Anna. Ich freue mich wirklich sehr darauf, deine Freundin zu sein.«
Kein Zopf – das war’s. Diese Anna hatte sorgfältig kurz geschnittenes Haar, das ganz sicher niemals parfümiert oder gefärbt worden war. Ihre klugen, ernsten Gesichtszüge vermittelten einen ausgeprägt erwachsenen, professionellen Eindruck. Mistletoe hatte das Gefühl, dass irgendwer ihr einen reichlich komplizierten Streich spielte.
»Wo ist Tante Dita?«, fragte sie barsch. »Wo ist Ambrose?«
Annas Lächeln verlor an Strahlkraft. »Du bist doch sicher mit der Reihenfolge der Dinge vertraut. Hat dich denn niemand über den Funktionsablauf des Betatests für die Version 3.0 unterrichtet?«
»Ich soll deine Freundin werden, dann ist Tante Dita frei.«
Anna ließ ihre Hand sinken und sah hinüber zu Sonnenbraun-Martin. Ihr Mund formte lautlose Worte:
Tante Dita?
Sonnenbraun-Martin zuckte die Schultern und blickte mehrfach zwischen den beiden Mädchen hin und her, dann sagte er zu Mistletoe: »Ich entschuldige mich für jegliche Art von Verwirrung, die
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