Im Dienste der Comtesse
1. KAPITEL
Mittwochmorgen, 8. Juli 1789
Wenn es um ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit ging, war eine Frau auf die Männer in ihrem Leben angewiesen; es war die Pflicht eines Mannes, für die zu sorgen, die von ihm abhängig waren. Diese Lektion lernte Pierce im Alter von siebzehn Jahren, als die Schulden seines Vaters seine Mutter und seine Geschwister in bittere Armut stürzten. Elf Jahre später hatte er immer noch nicht das Leid seiner Mutter nach dem Tod des Vaters vergessen, und auch nicht die verzweifelten Maßnahmen, zu denen ein Mann oder eine Frau unter Umständen greifen mussten, um überleben zu können.
Doch trotz seines natürlichen Mitgefühls für Witwen in misslichen Situationen – Erpressung duldete er nicht. Wenn lang gehütete Geheimnisse an die Öffentlichkeit gerieten, waren die Folgen nicht nur skandalträchtig, sondern möglicherweise verhängnisvoll für mindestens eine der darin verwickelten Personen.
Die Comtesse de Gilocourt war seit acht Monaten verwitwet. Bis zum Tod ihres Mannes war sie Herrin eines prachtvollen Stadthauses im elegantesten Viertel von Paris gewesen. Jetzt hatte sie offenbar eine Wohnung in einem Haus an der Place Vendôme gemietet, auf der anderen Seite der Seine. Die Place Vendôme war zwar auch eine vornehme Adresse, aber hier lebten eher Bankiers, nicht die Mitglieder der elitären Gesellschaft, der die Comtesse während ihrer Ehe angehört hatte.
Pierce stand in dem leeren Flur des ersten Stocks und wartete darauf, vorgelassen zu werden. Die Treppe, die hinab zum Erdgeschoss und hinauf in die höheren Etagen führte, war geschmackvoll und großzügig angelegt. Die Franzosen machten das Treppenhaus häufig zu einem wichtigen architektonischen Blickfang in ihren Häusern, da es für gewöhnlich das Erste war, was ein Besucher erblickte. Die Comtesse jedoch hatte nichts unternommen, den Bereich vor ihrer Wohnung behaglicher und einladender zu gestalten.
Die Tür ging auf, und der vorherige Kandidat kam heraus. Pierce warf ihm einen raschen, abschätzenden Blick zu. Der Mann hatte die Räume mit selbstgefälliger Zuversicht betreten. Jetzt wirkten seine Bewegungen etwas fahrig, als sei das Vorstellungsgespräch anders verlaufen als geplant. Im Vorbeigehen wich er Pierces Blick aus.
Pierce hörte Schritte und wandte sich wieder der Tür zu. Plötzlich stand eine Dame in einem taubengrauen Musselinkleid und mit einer Flut kastanienroter Locken vor ihm, die ihr wild über die Schultern fielen. Beinahe hätte er nach Luft geschnappt angesichts dieser feurigen, wirren Haarmähne. Locken waren durchaus in Mode – Haarpuder allerdings auch, denn Weiß galt allgemein als der schmeichelndste Ton. Er hatte gewusst, dass Bertiers zweite Frau zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, also überraschte ihn ihre Jugend nicht. Allerdings hatte er überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie so farbenfroh wirkte. Sie hatte moosgrüne Augen und eine zarte, blasse Haut mit Sommersprossen auf Nase und Wangen, die nicht übergeschminkt waren. Auch hatte er nicht erwartet, sie könne aussehen wie der Inbegriff von jugendlich frischer Unschuld. Er fragte sich, ob ihr wohl schon zu Lebzeiten ihres Mannes bekannt war, dass dieser als ein höchst erfolgreicher Schmuggler galt, oder ob sie erst nach seinem Tod die Beweise dafür entdeckt hatte, die sie nun für ihre Erpressung benutzte.
Trotz seiner anfänglichen Überraschung nahm er eine unterwürfige Haltung ein, während sie ihn von Kopf bis Fuß musterte, und ließ sich nichts von seinen Gedanken anmerken. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, andere nur das sehen zu lassen, was er sie sehen lassen wollte, und nun kam es ihm gelegen, dass die Comtesse nur einen Bediensteten vor sich sah, der eine Anstellung suchte.
Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen funkelten aufgebracht. Pierce fragte sich, was der andere Bewerber wohl getan haben mochte, um sie so in Rage zu versetzen. Ihr Blick fiel nur flüchtig auf die sorgfältig geflickte Tasche des Mantels, den er gebraucht erstanden hatte. Sein ursprünglicher Besitzer war Angehöriger des gehobenen Bürgerstands und ein wenig größer als Pierce gewesen. Er war sich im Klaren, dass er jetzt genauso aussah wie die vielen anderen Bediensteten, die die abgelegten Kleidungsstücke ihrer Arbeitgeber auftrugen.
Die Comtesse schaute an ihm vorbei in den Flur. „Sind Sie der Letzte?“
„Jawohl, Madame.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber es hatte nur weniger
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