Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
gleichsam und alle Gefahr vergessend. »Ich will dich führen; ich will deine Feinde zermalmen, du bist tausendmal mehr wert als jeder einzelne von ihnen. Wir gehen zuerst nach dem Süden, um sie irrezuführen, dann fliehen wir zu mir nach Hause, schaffen uns einen Hinterhalt, von wo die Verfolger zu treffen sind, wo man Kräfte sammeln kann für den entscheidenden Schlag.«
Wieder zur Tür; wieder lauschen; nachsehen, ob kein Horcher versteckt sei. Dann, ängstlich ablenkend, schilderte der Graf seine Heimat, den Frieden eines englischen Landsitzes, die herrenhafte Unabhängigkeit auf erbgesessenem Gebiet; die tiefen Wälder und klaren Flüsse, die balsamische Luft, das behagliche Weilen überall, Frühling, Herbst und Winter, eingeschlossen in einem Ring unschuldiger Genüsse.
In solchen Bildern lag etwas von der Wehmut reuigen Gewissens und dem Schmerz eines auf immer Verstoßenen. Zum andern Teil aber enthielten sie viel von der modischen Empfindsamkeit, die auch das verhärtetste Gemüt unterUmständen davon schwärmen ließ, seine selbstgeschaffene Unrast am Busen der Natur zu besänftigen. Und dann sprach er doch von seinem Leben. Er wußte sich als einen Mann darzustellen, der, vielbeneidet, mit Ehren und Ämtern und greifbaren Glücksgütern beladen, gleichwohl das Opfer feindlicher Mächte ist. Das Schicksal trat in romantischer Verkleidung auf und jagte den Sohn eines verfluchten Geschlechts unstet von Land zu Land. Vater und Mutter tot, ehemalige Freunde gegen den edeln Sproß des Hauses verschworen und er, ein Mann von fünfzig Jahren, ohne Heim und Weib und Kind, Ahasver!
Derlei Enthüllungen öffneten wie nichts sonst Caspars Herz der Freundschaft. Denn da war endlich einer, der sich gab, sich öffnete, die Vermummung abwarf. Es war bittersüße Lust, die angebetete Gestalt den Sockel verlassen zu sehen, auf dem sie für alle übrigen thronte.
Was ihn betrifft, er bot in dieser Zeit das Schauspiel eines ruhenden Menschen; außen und innen ruhend, gelöst von hemmender Fessel, Blick und Gebärde gelöst, die Gestalt aufgerichtet, die Stirn wie entschleiert, die Lippen geschwellt von einem beständigen Lächeln.
Er wurde seiner Jugend inne. Er dehnte sich aus, es war ihm, als sei er ein Baum und seine Hände wie Zweige voller Blüten. Ihm schien, als ströme sein Blut einen Wohlgeruch aus; die Luft schrie nach ihm, das Land schrie nach ihm, alles war voll von ihm, alles nannte seinen Namen.
Er pflegte manchmal laut mit sich selbst zu reden, und wenn er dabei überrascht wurde, lachteer. Die Leute, die mit ihm in Berührung kamen, waren bezaubert; sie fanden kein Ende, die über alles liebliche Erscheinung zu preisen, in der Kind und Jüngling zu rührendem Verein gediehen waren. Es gab junge Frauen, die ihm zärtliche Briefchen schrieben, und Herr von Tucher wurde vielfach mit Bitten belästigt, ihn von einem Maler konterfeien zu lassen.
Das üble Gerede gegen ihn war auf einmal wie verblasen. Keiner wollte je etwas Schlechtes gesagt haben, die eingefleischten Widersacher duckten sich, die ganze Stadt warf sich plötzlich zu seinem Beschützer auf. Es hieß mit immer kühnerer Deutlichkeit, man müsse ihn gegen die Machenschaften des englischen Grafen in Schutz nehmen.
Eines Tages mußte Stanhope zu seiner größten Bestürzung wahrnehmen, daß er von allen Seiten peinlich überwacht und behorcht war. Er mußte sich entschließen zu handeln.
Die geheimnisvolle Mission und was ihrer Ausführung im Wege steht
Schon lange hieß es an allen Wirtshaustischen, der Lord wolle Caspar Hauser an Sohnes Statt annehmen. In der Tat stellte Stanhope Mitte Juni den förmlichen Antrag an den Magistrat, ihm den Jüngling zu überlassen, er wünsche für seine Zukunft zu sorgen. Der Magistrat ließ durch den Bürgermeister erwidern: zum ersten, daß ein solches Ersuchen
in pleno
vorgetragen werden müsse; zum zweiten, daß derLord vor allem den Nachweis eines hinlänglichen Vermögens erbringen müsse, damit die Stadt eine sichere Gewähr für das Wohlergehen ihres Pfleglings habe.
Stanhope nahm den Bescheid sehr ungnädig auf. Er ging zum Bürgermeister, zeigte ihm seine Orden, die Beglaubigungen fremder Höfe, sogar vertrauliche Briefe hoher Fürstlichkeiten; Herr Binder, bei aller Ehrfurcht vor Seiner Lordschaft, bedauerte, den einstimmigen Beschluß des Kollegiums nicht rückgängig machen zu können.
Der Graf war unvorsichtig genug, in einer Gesellschaft, wo er zu Gast geladen war, seine Geringschätzung
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