Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
quittiert habe und aus Ansbach wegziehe, wohin, wisse niemand, daß alleBemühungen, dem furchtbaren Verbrechen auf den Grund zu kommen, vergeblich gewesen seien.
Clara blieb wie aus Stein. Als sie sich für die Nacht trennten, sagte sie leise und mit unheimlicher Sanftmut: »Auch du bist seine Mörderin.«
Frau von Imhoff prallte zurück. Doch Clara fuhr ebenso leise und sanft fort: »Weißt du es denn nicht? willst du’s nicht wissen? Versteckst du dich vor der Wahrheit wie Kain vor Gottes Ruf? Weißt du denn nicht, wer er war? Glaubst du denn, daß die Welt immer und ewig darüber schweigen wird, so wie sie jetzt schweigt? Er wird auferstehen, Bettine, er wird uns zur Rechenschaft fordern und unsre Namen mit Schmach bedecken; er wird das Gewissen der Nachgebornen vergiften, er wird so mächtig im Tode sein, als er ohnmächtig im Leben war. Die Sonne bringt es an den Tag.«
Darauf verließ Clara das Zimmer ruhig wie ein Schatten.
Am andern Morgen ging sie früh vom Hause fort. Sie besuchte ihren Türmer auf der Johanniskirche, saß lange oben auf der Steinbank in der schmalen Galerie und blickte weit über die winterliche Ebene. Sie sah aber nicht Schnee, sie sah nur vergossenes Blut. Sie sah nicht das Land, sie sah nur ein durchstochenes Herz.
Dann schlug sie den Weg nach dem Kirchhof ein. Der Totengräber führte sie zum Grab. Eben kamen zwei Arbeiter und lehnten ein hölzernes Kreuz gegen den Stamm einer Trauerweide.
Nach wenigen Minuten erschien der Pfarrer Fuhrmann. Er erkannte Clara und grüßte sie ernst und höflich. Sie, ohne zu danken, schaute an ihm vorüber, ihr Blick streifte den mit schmutzigem Schnee bedeckten Grabhügel und die Arbeiter, diejetzt das Kreuz zu Häupten des Grabes einrammten. Auf einem großen, herzförmigen Schild, das inmitten des Grabkreuzes befestigt war, standen in weißen Lettern die Worte:
HIC JACET
CASPARUS HAUSER
AENIGMA
SUI TEMPORIS
IGNOTA NATIVITAS
OCCULTA MORS
.
Sie las es, schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein gellend wehes Gelächter aus. Jählings wurde sie aber wieder ganz still. Sie drehte sich gegen den Pfarrer um und rief ihm zu: »Mörder!«
In diesem Augenblick kamen vom Hauptpfad her einige Leute, die der Zeremonie der Kreuzaufstellung hatten beiwohnen wollen: Herr und Frau von Imhoff, Herr von Stichaner, Medizinalrat Albert, der Hofrat Hofmann, Quandt und seine Frau. Sie sahen den Pfarrer bleich und aufgeregt, und der Eindruck eines jeden war, daß etwas Schlimmes vor sich gehe. Frau von Imhoff, voller Ahnung, eilte auf ihre Freundin zu und umschlang sie mit den Armen. Aber mit verwilderten Gebärden machte sich Clara los, stürzte der Gruppe der Nahenden entgegen und schrie mit durchdringender Stimme: »Mörder seid ihr! Mörder! Mörder! Mörder!«
Nun rannte sie an ihnen vorbei, auf die Straße hinaus, wo sich alsbald viele Menschen um sie versammelten, und schrie, schrie! Endlich wurde sie von einigen Männern umringt und am Weiterlaufen verhindert.
Quandt hatte wieder einmal recht behalten. Sie war wahnsinnig geworden. Noch am selben Tag wurde sie in eine Anstalt gebracht. Mit der Zeit verging die Raserei, aber ihr Geist blieb umnachtet.
Sehr zu Herzen war der Auftritt am Grabe dem Pfarrer Fuhrmann gegangen. Er wollte sich nicht zufrieden geben, wenn man ihm vorhielt, daß es doch eine Irre gewesen, die so gehandelt. Noch vor seinem kurz darauf erfolgten Ableben sagte er zu Frau von Imhoff, die ihn besuchte: »Mich freut die Welt nicht mehr. Warum klagte sie mich an? Mich, gerade mich? Ich hab’ ihn ja liebgehabt, den Hauser.«
»Die Unglückliche,« erwiderte Frau von Imhoff leise, »an Liebe allein hatte sie nicht genug.«
»Ich trage keine Schuld,« fuhr der alte Mann fort. »Oder doch nicht mehr, als dem sterblichen Leib überhaupt zukommt. Schuldig sind alle, die wir da wandeln. Aus Schuld keimt Leben, sonst hätte unser Stammvater im Paradies nicht sündigen dürfen. Auch unsern hingeschiedenen Freund kann ich nicht freisprechen. Was hat es ihm gefrommt, das Träumen über seine Herkunft? Wo Verrat von allen Lippen quillt, flieht der Tüchtige in den Kreis fruchtbarer Neigungen. Aber Schwärmer hören nur sich selbst. Unschuldig, meine Beste, unschuldig ist nur Gott. Er gnade meiner Seele und der des edeln Caspar Hauser.«
Ende.
Von demselben Verfasser sind bei
S. Fischer Verlag
in
Berlin
folgende Werke erschienen:
Die Juden von Zirndorf. Roman. Umgearb. Ausgabe
Die Geschichte der jungen Renate Fuchs
Der niegeküßte Mund.
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